„Wollen wir nicht anfangen, gnädiges Fräulein?“
Sie fühlte sich an der Hand gefasst, warme Finger umspannten mit leisem Druck die ihren.
„Welches Glück, Sie wiederzusehen, Fräulein Langen!“
Sie hob den Blick; jetzt sah sie wieder. Da waren Menschen, eine ganze Menge Menschen, die nach ihr hinschauten; in der vordersten Reihe auf einem Samtfauteuil die lächelnde Hoheit, dahinter das gütig nickende Gesicht Doktor Reuters.
Sie lächelte, sie nickte wieder. — ‚Welches Glück, Sie wiederzusehen‘ — wie Musik klang das! Einer war doch da, einer, der sich freute, sie zu sehen, der fühlte, wie sie fühlte, mit Andacht vor die heilige Kunst trat. Vor dem lohnte es sich zu singen.
„Fangen wir an,“ sagte sie. Sie fühlte Mut, seine Augen sahen sie strahlend und zuversichtlich an. Sie musste gut singen.
Er stellte das Notenheft auf: „Was?“ Und dann blätterten sie beide, bis sie, wie von einem Impuls getrieben, den Finger auf die Seite legten. Sie sagten beide: „Hier!“
„Pst, pst!“ Doktor Reuter klatschte in die Hände. Es wurde ganz still, nur ein leises Bewegen ging durch die Roben und Fräcke.
Brederchofer präludierte zur Einleitung, sehr weich und hübsch; wie Samt glitten seine Finger über die Tasten. Jeder Ton war Lena eine Offenbarung — er freute sich, sie wiederzusehen — was mochte er von ihr denken —?! Fast hätte sie den Anfang versäumt, aber nun setzte sie ein, so kräftig sie konnte; mit einer gewissen Siegesfreudigkeit schleuderte sie die Töne heraus:
„Im Rhein, im schönen Strome,
da spiegelt sich in den Well’n
mit seinem grossen Dome
das grosse heilige Köln.“
Wie Schelmerei glitt’s um ihre Lippen. Sie hatte den Flügel und den Begleiter im Rücken, nun wendete sie den Kopf ein klein wenig nach hinten. Bredenhofer sah ihre zarte Wange und den Ansatz zum Grübchen darin, er sah die braunen Haarringel um das zierliche Ohr zittern.
„Es schweben Blumen und Englein
um unsre liebe Frau,
die Augen, die Lippen, die Wänglein,
die gleichen der Liebsten genau.“
Schumann mochte sich den Schluss des Liedes anders gedacht haben, mehr wie ein zartes Erinnern in sanft dahingleitender Melodie. Lena machte ein jubelndes, freudvolles Wiedererkennen daraus; sie drängte vorwärts, um voll und frohbewegt zu schliessen. Sie hatte das Lied früher nie so gesungen, es war ihr selbst eben neu geworden.
„Bravo — charmant — bravo — ganz charmant!“ Aus dem Klatschen hörte sie Doktor Reuters Stimme heraus. Ihr alter Freund hatte sich über die Hoheit gebeugt und nickte, eifrig sprechend; diese nickte auch und nickte dann Lena zu, die Hände huldreichst zusammenschlagend. Sie konnte mit dem Erfolg zufrieden sein. Eine seltene Freudigkeit, der Wunsch, mehr zu gefallen, jenem da am Klavier vor allem zu gefallen, überkam sie! Sie liess sich nicht bitten, Lied folgte auf Lied, mit jedem sang sie besser.
Ihr war, als könne ihre Kehle nie müde werden, der Kitzel, der sie sonst so leicht quälte, kam ihr gar nicht; singen, singen ohn’ Unterlass, die Nacht durch bis zum frühen Morgen, das hätte sie gekonnt. Mit dem heissen Rot auf den Wangen, mit den feuchten, tiefgefärbten Lippen und den gross aufgeschlagenen glänzenden Augen war sie sehr hübsch. Sie war ganz bei der Sache, sie sah jetzt nicht mehr die vielen Augen in den gleichgültigen Gesichtern; an die dachte sie gar nicht, aber sie dachte auch nicht mehr an Bredenhofer. Nur wie eine wohltuende Berührung empfand sie dunkel und unbewusst sein weiches Klavierspiel. Sie dachte jetzt nur an die Musik; ihre Seele wiegte sich auf den Klängen, sie war dem allen hier weit, weit entrückt, sie flog höher und höher.
„Wie macht sie hübsch den Mund auf! Was hat sie für reizende Zähnchen!“ sagte ganz in der Nähe jemand unvorsichtig laut.
Lena hatte es hören müssen und zuckte zusammen; wie einen schmerzhaften Stich empfand sie es. Als ob sie jemand am Kleid packte und aus der reinen Höhe herunterrisse, so war’s ihr.
Das Lied war beendet. „Wir wollen aufhören,“ sagte sie zu Bredenhofer.
„Schon? O —! Tun Sie mir noch einen Gefallen, singen Sie mein Lieblingslied: ‚Wer machte dich so krank?‘! Hier,“ — er blätterte hastig — „Sie kennen es doch? Es ist so schön!“ Seine Finger tasteten wie liebkosend über die Klaviatur — ein paar unbestimmte Akkorde — er murmelte:
„Dass du so krank geworden,
wer hat es denn gemacht?“
Sie erschrak über den schwermütigen Ausdruck, der sein eben noch so heiteres Gesicht beschattete.
„Bitte, singen Sie es, Fräulein Langen, es passt zu Ihrer Stimme.
Dass ich trag’ Todeswunden,
das ist der Menschen Tun;
Natur liess mich gesunden,
sie lassen mich nicht ruhn.
Noch das Lied!“ Er sah sie bittend und sehnsüchtig an mit einem seltsam verwirrenden Blick.
„Ich kann nicht!“ Sie senkte den Kopf auf die Brust. „Ich bin heute zu glücklich!“
*
Während des ganzen Abends hatten sie zusammengehalten. Jetzt war es schon spät. Draussen stand der Mond wie eine mattglänzende Scheibe am Himmel. Ein leichter Frost hatte die Erde gestreift, die Pfützen waren eingetrocknet, und doch war es nicht kalt.
Bredenhofer schlug Lena den Kragen des Abendmantels in die Höhe, als sie miteinander vor die Tür traten. Sie erschauerte leicht. Drinnen war’s warm gewesen — das viele Licht, all die Menschen, und — und — Lena wusste selbst kaum, wie ihr zumute war. Glücklich auf jeden Fall; aber es war eine seltsame Unruhe, ein Vorwärtsdrängen, eine fieberhafte Erregtheit in diesem Glück.
Man hatte ihr sehr viel Schmeichelhaftes gesagt, die Hoheit ihr des längeren und breiteren von Poesie gesprochen und der begeisterte Freund und Kunstmäzen ihr enthusiastisch die Hände geküsst: „Kindchen, Kindchen, aus Ihnen wird noch was, ich hab’s ja immer gesagt — ganz charmant — und wie Sie aussehen!“ Er küsste sich entzückt die Fingerspitzen.
Er hatte recht — ein Blick im Vorüberstreifen in den Spiegel — sie sah’s auch, so hübsch war sie selten. „Nur ein bisschen Glück,“ murmelte sie unhörbar, und dann lächelte sie und legte die schlanken Hände an die glühenden Wangen. Ihre Augen waren glänzend, brennend, ihr Mund plauderte und scherzte; sie sagte, was sie sonst nie gesagt haben würde, sprudelnd witzig, und mitten drin biss sie sich mit den weissen Zähnen auf die tiefrote Unterlippe — nur nicht zu lustig!
Der ganze Tisch amüsierte sich über sie; sie fühlte die freundlichen, ja bewundernden Blicke, sie hörte die Komplimente und nahm sie mit naiver Freude hin. Alle waren gut, sehr gut zu ihr, und Bredenhofer vor allen; er wich nicht von ihrer Seite.
Sie plauderten dann mitten im Schwarm halblaut miteinander wie damals im Eisenbahnkupee; es gab ihnen so eine eigene Art von Vertrautsein. Manchmal in früheren Nächten hatte Lena, nicht des Reisegefährten, wohl aber des Kusses bei der Ankunft in Berlin gedacht; sie war dann unter die Decke gerutscht und hatte den Mund halb in Lächeln, halb in Verlegenheit verzogen, sie mochte sich selber nicht gern daran erinnern. Jetzt schämte sie sich gar nicht mehr; sie wusste, er dachte doch gut von ihr: das sprach aus seinen Augen, aus seiner Stimme, aus seinem ganzen Wesen. Und nun war ihr, als hätte sie immer, immer an den Reisegefährten gedacht, als wäre ihr die ganze Zeit über nichts anderes in den Sinn gekommen.
Als das Fest sich zu Ende neigte, hatte Bredenhofer gebeten, sie nach Hause bringen zu dürfen. „Es ist ein so märchenhaftes Glück, das mich mit Ihnen hier wieder zusammengeführt hat, lassen Sie mich’s auskosten, Fräulein Langen — lassen Sie mich!“
Und nun gingen sie. Hohl hallten ihre Schritte auf der einsamen Strasse. Vor ihnen das Trottoir, mit einem leichten Gespinst von Reif überzogen, glänzte wie Silber. Am Himmel unzählige Sterne, und mitten darin der Mond, ruhig im blaugrauen Äther schwimmend.
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