Würdevoll mit dem Kopfe nickend verliess der berühmte Mann den Musiksaal; an der Tür stiess er mit Lena Langen zusammen. Sie wollte an ihm vorüber huschen, sein Blick traf gerade noch ihr zierliches Ohr, den schlanken Hals und die darauf sich kräuselnden widerspenstigen Haare. Er fasste nach ihrem Arm.
Unwillig sah sie ihn an, sie war ihm böse, zornig auf jedes und jeden, dabei hätte sie bitterlich weinen mögen; unterdrückte Tränen funkelten in ihren Augen.
„Fräulein Langen, was ich Ihnen sagen wollte,“ — der Professor in seinem kostbaren Pelz beugte die lange Gestalt näher — „Sie sollten nur Schumann singen. Sie haben darin so etwas — etwas —“ ein zynisches Lächeln flog flüchtig über sein Gesicht, er legte für einen Augenblick den Zeigefinger unter das zarte Kinn des Mädchens. „Sie haben sehr viel Temperament, Fräulein Langen!“
Sie wurde blutrot und warf den Kopf zurück.
„Keine Schande, mein liebes Kind, im Gegenteil!“ Professor Dämel wurde ganz väterlich, er legte ihr die Hand auf die Schulter. „Keine Künstlerin ohne Passion! Blut, warmes Blut gehört zum Beruf; nicht bloss zur Bühnensängerin, auch für den Konzertsaal, für den Konzertsaal! Wer in die Öffentlichkeit tritt, etwas erreichen will, der —“ Er lächelte wieder, das gleiche, unangenehme Lächeln wie vorher, und dabei nahm er jetzt ihre Hand und tätschelte sie. „Hören Sie, mein Kind, und wenn Sie etwa diesen Winter in einem grösseren Konzert singen wollen, ich arrangiere Ihnen das. Wenden Sie sich nur vertrauensvoll an mich, ich bin Ihr bester Freund!“
Wieder das Tätscheln, dann zog er den hohen Hut und ging. Das Mädchen sah ihm nach mit zusammengezogenen Brauen und einem bitteren Zug um den Mund. Sie hätte ihn fortstossen mögen, diesen Mann mit den platten Witzen und der schleichenden Liebenswürdigkeit; sie hatte oft erzählen hören, dass Schülerinnen, die vom Professor besonders protegiert wurden, nicht immer am besten sangen. Heute hatte auch sie ihm gefallen. Aber nicht ihr Gesang interessierte ihn, ihr heisses Bemühen, ihr heisses Streben — einzig und allein das andere!
Heftig trat sie auf den Boden. Ihre Hand ballte sich in den Falten des Kleides zur Faust. Nein, nur um der Kunst willen, der reinen hohen Kunst willen wollte sie aus dem Gros hervorgezogen werden und dastehen und den staunenden Zuhörern ans Herz legen, was unvergängliche Meister an Poesie und Empfindung in himmlische Melodien gegossen. O wie schön musste es sein, in andächtige, bewundernde, tränenfeuchte Augen zu sehen, sich eins zu fühlen mit dem grossen Komponisten, sein Mund zu sein, seine Gefährtin im Dienst der göttlichen Musik!
Lena fühlte sich begeistert, erhoben. Ein Strom von Empfindungen wallte in ihrer Seele hin und her, sie fühlte sich augenblicklich ganz besonders berufen und auserwählt. Eine heilige Freude erfüllte sie, ein Gehobensein über die ganze Welt — da — sie zuckte zusammen, eine beringte Hand tupfte sie auf den Arm.
„Na, Langenchen, Kindchen, was stehn Sie da? Das Mannchen war heut ganz niedlich, hat sich auch bei Ihnen ’rangeschmuggelt, was? Glauben Sie mir, Kindchen, das ist das baste, das baste. Mit der Kunst ist das so ’ne Sache!“ Die schöne ‚Astpreissin‘ steckte zwei Finger in den Mund und pfiff darauf.
„Lassen Sie mich in Ruh’,“ sagte Lena herb und stiess sie zurück.
Wo war die heilige Freude, wo das Gehobensein? Weg, ganz weg; statt ihrer eine tiefe Niedergeschlagenheit, eine kleinmütige Trübseligkeit sondergleichen. Den Kopf tief gesenkt, schritt sie übers Trottoir, die belebte Potsdamer Strasse hinunter. Draussen in einer der neuen Strassen, nicht weit vom Matthäikirchhof wohnten sie; da war es anständig und doch verhältnismässig billig.
Sie fühlte sich müde, an allen Gliedern zerschlagen, im Hals sass ihr ein Kitzel und in der Brust ein Brennen. Was wollte sie eigentlich mit der ganzen Singerei, dem In-die-Stunden-Laufen, dem Solfeggieren, dem Arienkollern? Aus ihr wurde doch zeitlebens nichts, gar nichts. Lange Zeit zum Warten, zum Werden lag auch nicht mehr vor ihr, sie war schon fünfundzwanzig; und wenn auch die überschlanke Figur sie sehr jungmädchenhaft erscheinen liess, der Spiegel zeigte ihr oft müde Augen und auf den Wangen eine gewisse herbstliche Blässe. Wie lange noch, und sie war zu alt für eine Anfängerin auf der Bahn des Gesangesruhms.
Langsam stolperte Lena voran. In ihrem Kopf nichts wie trübe Gedanken. Alles ging ihr auch fehl im Leben; worauf sie sich freute, das wurde zu Wasser, was sie liebte, das wurde ihr genommen. Sie dachte an all die Kurmachereien und das Getändel, aus dem nichts Ernstes geworden, von dem nichts haften geblieben war als eine kleine beschämende Erinnerung. Und doch hatte sie immer Herz gegeben, viel Herz. Und dann dachte sie an ihren Bruder, und der niedergeschlagene Ausdruck ihres Gesichts vertiefte sich noch. Er schrieb so selten, so spärlich. Seit ihrer plötzlichen Abreise aus seinem Hause im Herbst war etwas zwischen sie getreten; was, konnte man nicht recht bestimmen, aber es war doch da. In jedem seiner Briefe schrieb er von Amalie, viel; sonst hatte er das nie getan. Er nannte sie verständig, tüchtig, alles Angenehme suchte er auf sie zurückzuführen. Er hatte nicht Glück damit, weder bei der Mutter, noch bei der Schwester.
„Sie hat ihn gut unterm Pantoffel,“ sagte Lena und kräuselte verächtlich die Lippen. Den Brief, den sie bald nach ihrer Rückkehr nach Berlin von der Schwägerin bekommen, hatte sie in kleine und immer kleinere Stückchen zerrissen und der Magd in den Kehricht geworfen. „Die Scheinheilige, da schreibt sie mir, alles soll vergessen sein. ‚Wir sind beide heftig gewesen. Ich vergebe Dir von Herzen, liebe Lena.‘ — O die!“
„Ja, sie tut wirklich so, als seist du allein die Schuldige,“ seufzte die Mutter. „Es ist unerhört!“ Frau Langen fand viel an ihrer Lena zu tadeln, aber wenn andere der Tochter zu nahe traten, das vertrug sie nicht. „So ein armes Ding,“ pflegte sie zu sagen, „was hat das denn in der Welt? Und wenn ich einmal nicht mehr bin — ach! Meine Lena soll wenigstens nur mit Liebe an mich zurückdenken.“ Frau Langen war böse auf ihren Sohn und ihre Schwiegertochter, und wenn es ihr auch schwer wurde und sie heimlich Tränen vergoss, sie zwang sich, kühl zu schreiben.
So standen die Sachen. Ein Misston hatte sich eingeschlichen in die schöne Harmonie der Geschwister. Lena durfte gar nicht daran denken, dann fühlte sie ihr Herz pochen und Tränen in ihren Augen aufquellen. Heute besonders nicht; heute war ohnehin alles grau in grau, ein Flor deckte das ganze Leben.
Schwer, als hätte sie Gewichte an den Füssen, stieg Lena die sogenannten zwei Treppen zur Wohnung hinan; eigentlich waren es drei. Auf jeder Stufe zögerte sie; warum eilen? Sie kam noch früh genug, von Freude wartete nichts auf sie, die Mutter würde deprimiert sein wie sie selbst.
Die Stimmungen der Tochter waren das Barometer für die Laune der Mutter; liess Lena den Kopf hängen, schlich auch diese betrübt umher, seufzte über ihr Geschick, Witwe zu sein, eine unversorgte Tochter zu haben und über das Los der Frauen im allgemeinen. War Lena vergnügt, dann färbte auch ein zartes Rot Frau Langens schmales Gesicht, sie wurde lebhaft wie ein junges Mädchen, gesprächig und baute Zukunftsschlösser in rosigem Licht. —
„Ist Mutter zu Haus?“ fragte Lena müde, als das Dienstmädchen öffnete. Sie fragte es nur aus Gewohnheit, sie hatte heute keine Eile; so gar nichts Freudiges brachte sie mit. Es tat ihr leid, die Mutter mit hineinzuziehen in das Grau ihrer Gedanken, und doch konnte sie’s nicht über sich gewinnen, ihre Missstimmung zu verbergen.
Zögernd öffnete sie die leis knarrende Tür zum Esszimmer — da war der Nähtisch der Mutter am Fenster, sie selbst sass davor. Frau Langen war beschäftigt. Neben ihr stand ein Stuhl, über dessen Lehne sorgfältig ein weisses Kleid gespreizt hing; sie nähte daran. Sie war so eifrig, dass sie das Knarren der Tür überhört hatte; ganz versunken schien sie in ihre Arbeit, nur bemüht, dieselbe recht schön zu machen. Nun hob sie das weisse Kleid mit einem Arm, hielt es von sich ab, legte den Kopf auf die Seite und betrachtete es bewundernd. Ein zartes Rot trat auf ihre Wangen und ein zärtliches Licht in ihre Augen — sie dachte sich schon die Tochter darin.
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