»Ich möchte wissen, was Johan Lindén dort macht ‒ er wohnt in der Brahegata, nur ein paar Blocks von Lottie entfernt. Ich hatte nicht den Eindruck, dass er die Nacht mit Pernilla oder Dahlia verbracht hat, und wenn er Lotties Liebhaber war, dann hätte er sich doch bestimmt Sorgen gemacht, als sie nicht nach Hause kam. Falls es nicht normal war, dass Lottie irgendwo anders schlief, aber das hätte sie sicher nicht gemacht, wenn ihr Liebhaber zu Besuch war. Es sei denn, sie hätten sich an diesem Abend gestritten. Aber dann wäre doch wohl eher er gegangen. Und wenn er bei einer der anderen übernachtet hat, dann kann es doch nicht schwer sein, das herauszufinden. Lottie hat ihre Wohnung mit drei jungen Frauen geteilt, viele Geheimnisse kann es da nicht gegeben haben. Wenn sie sich mit Johan oder sonst jemandem zerstritten hatte, dann müssten wir, wenn wir kein allzu großes Pech haben, gleich mehrere Zeuginnen für einen heftigen Wortwechsel oder was auch immer zur Auswahl haben.«
Falls wir es schaffen, diese möglichen Zeuginnen zum Reden zu bringen, dachte Monika.
Sein Engagement wollte sich nicht auf sie übertragen, lockerte die Stimmung im Wagen jedoch zumindest ein wenig auf. Der Valhallaväg erwies sich außerdem als kluge Wahl, der Verkehr verlief dort praktisch normal, und danach erreichten sie verhältnismäßig leicht den Sankt Eriksplan und von dort die Igeldammsgata.
Es war vielleicht auch gut, dass sie nicht mit Idriss reden konnte, sie hatte keine Lust, sich mit verlorenen Geschwistern, toten Müttern, Hass und Streit zu befassen. Doch gleichzeitig waren sie unterwegs zu einer Tochter, deren Mutter aller Wahrscheinlichkeit nach ermordet worden war, einer Tochter, die Grund hatte, böse auf ihre Mutter zu sein, falls auf Jennys Aussagen Verlass war, und deshalb blieb für Monika nur eine kurze Galgenfrist.
Zum zweiten Mal an diesem Tag sahen sie die Fleminggata unterhalb der Igeldammsgata auftauchen. Das Licht war beim ersten Mal milder gewesen, und die Straße kam ihnen jetzt ein wenig normaler vor, ein wenig härter in den Konturen. Die Nummern 24 bis 28 gehörten zu einem langen Haus mit Betonbalkons über die gesamte Fassade; soweit Monika sehen konnte, handelte es sich um das einzige Haus in der Straße, das aus den sechziger Jahren stammte. Lottie war an diesem Morgen oberhalb der Nummer 32 gefunden worden, eine Nummer 30 gab es offenbar nicht. Monika schüttelte den Kopf.
»Das kann einfach kein Zufall sein.«
Das hätte ihr eigentlich eher zusagen müssen. Wenn Lotties älteste Tochter jetzt mit einem blutigen Baseballschläger in der Hand in ihrer Wohnung saß und sich danach sehnte, alles gestehen zu dürfen, dann wäre der Fall gelöst und würde bald aus der Welt sein. Monika könnte sich wieder ihrer normalen Arbeit widmen und die Verantwortung für Idriss jemand anderem überlassen, eine einfache und arbeitssparende Lösung. Überrascht stellte Monika fest, dass sie hoffte, es werde doch nicht ganz so einfach sein. Plötzlich wollte sie nicht, dass sich das am wenigsten geliebte Kind gerächt hatte, dass ein Keim, der in der Kindheit gepflanzt worden war, am Ende zu Lotties eingeschlagenem Schädel geführt hatte. Wie sollte man sich in einer solchen Welt denn sonst jemals sicher fühlen können?
Idriss schien ähnlichen Gedanken nachgehangen zu haben, denn er sagte leise: »Kann man wirklich plötzlich von einem Hass überwältigt werden, den man schon so lange mit sich herumschleppt? Ich habe das einmal nachgerechnet: wenn Eva-Maria auf dem Foto in der Zeitung drei war, dann ist sie jetzt Anfang vierzig. Jenny sagt, dass Eva-Maria Lottie immer noch hasste, aber wie wollte Jenny das wissen, wenn sie doch keinen Kontakt zueinander hatten? Und was bedeutet das überhaupt? Wir sehr können wir unsere Eltern hassen?«
»Genug, um sie zu töten, das solltest du doch wissen. Und es braucht kein Grund von früher zu sein, der hier herumspukt, Lottie kann diesen Grund dafür, dass jemand ihr den Tod gewünscht hat, auch erst vor kurzem geliefert haben.«
Sie hielten am Bürgersteig an und stellten den Wagen vor dem Hauseingang ab, der auch hier aus einer Art Tunnel bestand, nur war dieser gerade und rechteckig, genau wie das übrige Haus, und besaß eine Einfahrt für Autos und einen Fußweg. Die eine Mauer war grau gefliest, unter der Decke hingen Neonröhren. Den Architekten der sechziger Jahre hatte es an Selbstvertrauen jedenfalls nicht gefehlt ‒ das Haus war entworfen und gebaut worden, als bestünde nicht der geringste Grund, auf irgendjemanden oder irgendetwas in der Umgebung Rücksicht zu nehmen. Es war in einer Zeit entstanden, in der Schweden zu den reichsten Ländern der Welt gehört hatte, in einer Zeit ohne Staatsverschuldung, einer Zeit, in der die Bevölkerung glauben konnte, dass das Land im Gegensatz zu den meisten anderen nicht zu Rassismus oder Fremdenfeindlichkeit neigte. Einer Zeit, als Reihen von identischen eckigen Betonhäusern auf frisch asphaltierte Felder gesetzt wurden und alle das so in Ordnung fanden. Auf einem Feld wäre es vielleicht logisch erschienen, die Balkons auf der einen und die Eingänge auf der anderen Seite anzulegen. Heute jedoch wirkte es alles andere als selbstverständlich, zuerst durch das Haus gehen zu müssen, ehe man es betreten konnte, doch da die Querseiten mit denen der Nachbarhäuser zusammengebaut waren, blieb keine andere Wahl.
Links, vor Eva-Marias Haus, verlief ein Straßenende, das in einer etwas breiteren Fläche endete, die von einem Schild als Wendehammer deklariert wurde und von einigen Rhododendronbüschen umgeben war, deren dunkle Blätter sich in der Kälte aufgerollt hatten. Dahinter verlief eine niedrige Betonmauer mit schwarzem Eisengeländer. Monika ging am Haus entlang, zwängte sich dann durch die Büsche und beugte sich vor, um festzustellen, ob es einen Durchgang zum Hinterhof von Nummer 32 gab. Dabei erkannte sie, dass sie auf einem Absatz stand, der schräg oberhalb vom eventuellen Tatort lag. Unter sich sah sie die Treppe mit dem hellroten Blutfleck und die Kollegen von der Technik sowie einen jungen Schäferhund, die systematisch den Hof durchsuchten. Der Hund schien als Einziger mit Freude und Enthusiasmus an der Arbeit zu sein.
Es waren bestimmt sieben oder acht Meter bis nach unten, und es gab keine Treppe. Es war offenbar nicht möglich, von Eva-Marias Hinterhof in den der Nummer 32 zu gelangen, solange man sich nicht abseilte. Vermutlich war das alles nicht wichtig, dennoch war es ein befriedigendes Gefühl, etwas Konkretes zu wissen ‒ als Gegenstück zu den Grübeleien über Lottie und ihre Familie, die der Besuch bei den jüngeren Töchtern ausgelöst hatte.
Sie gingen am Haus vorbei zu Eva-Marias Eingang. Moussaoui, K., wohnte im zweiten Stock. Monika klingelte, und sie wurden sofort eingelassen.
Als sie oben ankamen, stand die Wohnungstür bereits offen. Die Frau sah wesentlich älter aus, als Monika erwartet hatte, deshalb hielt sie sie zuerst für eine Freundin oder eine Nachbarin.
»Eva-Maria Moussaoui.«
Sie sprach ihren Namen fast tonlos aus, als habe sie kaum noch Herrschaft über ihre Stimme. Lotties älteste Tochter trug eine alte Trainingshose, die immer schon von schlechter Qualität gewesen war, ein verschlissenes T-Shirt und ein Paar Frotteesocken, die in der Wäsche Farbe und Form eingebüßt hatten. Ihre hellbraunen Haare wiesen bereits graue Strähnen auf, und ihre nachlässige Frisur verstärkte den Eindruck von Müdigkeit und Resignation noch. Monikas erster Gedanke war, dass diese Frau einfach nicht genug Energie besitzen konnte, um einen Mord zu begehen.
Sie stellten sich vor, und Eva-Maria führte sie durch eine enge Diele und einen schmalen Gang in ein Wohnzimmer, das noch kleiner war als erwartet. Vielleicht sah es auch nur so klein aus, weil zwei riesige Sofas fast beinahe den gesamten Raum einnahmen. Oder weil Lotties Wohnung so riesig gewesen war. Es roch nach kaltem Zigarettenrauch und Staub.
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