Doch sie sollte nie erfahren, was Idriss gedacht hatte.
»Ich frage mich, woher sie so genau weiß, dass ihr Sohn Lotties einziges Enkelkind war, wenn sie zu ihrer Familie keinen Kontakt hatte«, sagte er nur.
Dazu fiel Monika nichts ein.
Sie glaubte plötzlich nicht mehr, dass sie diesen Fall klären würde.
Der Spiralblock hatte A5-Format, auf der Vorderseite war eine beruhigende japanische Illustration, eine Chrysantheme in allerlei diskreten Rosatönen, aber im Augenblick schien der gefährliche Inhalt des Blocks diesen regelrecht zum Glühen zu bringen.
Gerd wusste, dass sie sich des Blocks entledigen musste und stellte sich allerlei Möglichkeiten vor: ihn verbrennen. Unmöglich, sie hatte keinen offenen Kamin und verspürte keinerlei Lust, die engbeschriebenen Seiten nacheinander über dem Spülbecken abzufackeln. Wegwerfen? Ihn zusammenknüllen und in den Müll werfen, die Tüte verknoten und weg damit. Sie war davon überzeugt, dass die Tüte platzen und der Block gefunden würde, er schien ja auf dem kleinen Dielentisch, wo er nun schon die ganze Zeit gelegen hatte, fast schon zu leuchten.
Ihn zur Polizei zu bringen wäre natürlich auch eine Möglichkeit, aber eine so unangenehme, dass sie sie einfach nicht in Betracht ziehen wollte.
Sie könnte den Block nicht ins Wasser werfen, da alles gefroren war, und ihn vergraben ging auch nicht, da sie die gefrorene Erde nicht würde lockern können.
»Das geht sehr gut«, hatte sie zu Lottie gesagt. »Ich höre, wenn sie kommt, und ich höre, wenn sie geht. Der Block liegt gleich neben der Tür, und ich schreibe sofort alles auf. Sie merkt nicht, dass ich sie beobachte, von draußen ist das nicht zu sehen.«
Lottie hatte sie mit einem Lächeln belohnt, das sich über ihr ganzes Gesicht gezogen hatte. Ein Lächeln, für das ich sterben könnte, hatte sie gedacht, und diese Erinnerung machte ihr jetzt eine Gänsehaut.
Sie wollte nicht sterben. Nicht für Lottie, nicht für deren Lächeln, nein, überhaupt nicht.
Und deshalb musste sie sich von diesem Block befreien.
Sie war davon überzeugt, dass Lotties Tod kein Zufall sein konnte. Und sie war davon überzeugt, dass sie in derselben Gefahr schwebte wie Lottie. Der Unterschied war nur, dass sie den Mund halten konnte. Sie war diskret und anonym. Wenn der Block erst verschwunden wäre, dann wäre nichts geschehen und sie hätte nichts gesehen.
Ohne den Block konnte sie behaupten, dass sie nichts gesehen hätte, dass sie die Falsche fragten.
Der Fahrstuhl setzte sich in Bewegung, und ihre Angst war so groß, dass sie einen Moment lang glaubte, gleich sterben zu müssen. Sie glaubte, ihr Herz würde aufhören zu schlagen. Dass sie glaubte, ihr Herz werde anhalten. Doch der Fahrstuhl fuhr nur in den zweiten Stock, und als sie Erik Janssons abgehackten Husten hörte, konnte sie wieder atmen.
So konnte das nicht weitergehen. Sie brauchte Schutz. Besser, alles auf sich zu nehmen, die eigene Schuld einzugestehen, als zu sterben. Sie musste zur Polizei gehen. So gefährlich konnte es doch nicht sein, die Katholiken machten das jede Woche, und ein Geistlicher und ein Polizist waren ja ungefähr dasselbe. Beide waren an solche Geständnisse gewöhnt. Sie nahm ein Taxi. Die Zeit drängte.
Sie hatten die Bergsgata fast schon wieder erreicht, als bei Monika ein Anruf von der Wache einging, wo sich ein Zeuge gemeldet hatte. Ein Flieger namens Erik Olsson.
Endlich! Wenn Lottie wirklich ermordet worden war, dann konnte ein zuverlässiger Zeuge beide Probleme lösen; die Frage nach Lotties Tod und die nach Idriss. In ruhigeren Zeiten hatte Monika Zeugen bisweilen als zu leichte Lösung betrachtet, als Pfusch sozusagen. Jetzt aber hoffte sie nur, dass sie bald in Erfahrung bringen würde, wie Lottie ums Leben gekommen war und wer dafür die Verantwortung trug. Sie nahm an, dass die von Tür zu Tür gehenden jungen Kollegen den Zeugen gefunden hatten und bedachte sie mit einem freundlichen Gedanken.
Der Zeuge war jetzt wichtiger als der Anrufbeantworter mit seinen vorwurfsvollen roten Augen und die Briefstapel. Sie bat Idriss, die Gespräche dieses Tages zusammenzufassen.
Erik Olsson entpuppte sich als hilfsbereiter Mann von Mitte 30 mit frischgebügeltem Hemd und frischgeschnittenen Haaren.
»Ja, also, der erste Polizist, mit dem ich gesprochen habe, hat gesagt, ich sollte mich an Sie wenden wegen etwas, das am Donnerstag passiert ist.«
»Am Donnerstag? In der Igeldammsgata?«
»In der Igeldammsgata?«, wiederholte der Mann verwirrt.
Erik Olsson war offenbar nicht der Zeuge, auf den Monika gehofft hatte. Sie fragte sich, warum David ihn an sie verwiesen hatte, doch da David niemand war, der Aufgaben weiterreichte, um sich damit selbst Ruhe zu verschaffen, musste Erik Olsson ihr doch etwas Wichtiges zu berichten haben.
Sie führte ihn in ein kleines Besprechungszimmer und setzte sich auf einen der unbequemen Stühle.
»So, und nun erzählen Sie mir bitte, was am Donnerstag passiert ist.«
»Also, ich wollte nach Hause gehen, genauer gesagt, ich wollte zum Bus, ich wohne in Jakobsberg, und da habe ich etwas gesehen, was mir keine Ruhe lässt...«
Monika begann, in Gedanken zu zählen. Eins, zwei, drei...
»Zuerst zwei Brüste, die gegen das Glasfenster in einer Haustür gepresst wurden.«
Er wand sich sichtlich.
»Ich war auf dem Weg nach Hause zu meiner Frau und meinen beiden kleinen Töchtern. Es war... sie waren...« Er errötete, verstummte und sagte dann unsicher: »Irgendwie... ästhetisch.«
Monika versuchte es ihm ein wenig einfacher zu machen.
»Es wäre sicher unnatürlich, nicht stehen zu bleiben, wenn man durch eine einsame dunkle Straße geht und hinter einer Glasscheibe zwei ästhetische Brüste sieht.«
Er nickte dankbar.
»Ja, und dann wurde der Oberkörper einige Male sehr viel härter gegen das Glas gepresst. Es war so eine Tür, wo das obere Drittel aus einem Fenster besteht.«
Dann verstummte er wieder und starrte auf den Boden.
»Dann ist die Person hinter der Tür nach unten gesunken, mit Brust und allem, sie hatte lange dunkle Haare, und danach war das Fenster leer.
Als ich meiner Frau am nächsten Morgen zum Abschied einen Kuss gegeben habe, musste ich wieder an das Mädchen hinter der Tür denken ‒ ich konnte nicht begreifen, wie ihre Brust in Fensterhöhe sein konnte. Wenn meine Frau dort gestanden hätte, wäre höchstens ihr Gesicht zu sehen gewesen.«
Jetzt hatte er den peinlichen Teil hinter sich und sein Redefluss stockte nicht mehr ganz so sehr. »Ich dachte, dass sie vielleicht auf einem Hocker gestanden hat und heruntergerutscht war, oder dass jemand sie hochgehoben und dann fallen gelassen hatte, aber das kann nicht stimmen. Sie fiel so glatt zu Boden, und das tut man doch nicht, wenn man das Gesicht einer Wand oder einer Tür zukehrt ‒ dann fällt man rückwärts oder zur Seite.«
Er blickte Monika mit hilfloser Miene an.
»Und ich glaube, dass sie vielleicht Blutspuren am Fenster hinterlassen hat. Deshalb habe ich mich die ganze Zeit gefragt, ob ich die Sache melden sollte. Aber vielleicht habe ich mir das meiste ja nur eingebildet. Auf alle Fälle konnte ich seitdem nicht schlafen.«
Monika hatte das Gefühl, nur eine bleiche Kopie ihrer üblichen freundlichen Miene liefern zu können. Sie sagte: »Was Sie da erzählen, passt genau zu einem Fall, den wir gerade untersuchen. Sie haben eine Misshandlung gesehen, und es ist sehr gut, dass Sie hergekommen sind. Für uns ist das eine große Hilfe.«
»Wie geht es ihr?«
»Sie hat schwere Verletzungen, aber keine lebensgefährlichen. Wissen Sie noch, welches Haus das war?«
»Ja, hier ist die Adresse.«
Die Adresse war sorgfältig auf dem Briefpapier einer Fluggesellschaft notiert, außerdem waren dort der Name des Mannes und seine Telefonnummer angegeben.
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