»Danke. Ein Kollege, Janne Larsson, wird diesen Fall übernehmen. Er meldet sich bei Ihnen. Danke für Ihren Besuch.«
Erik Olsson wirkte jetzt so entspannt, als sei soeben das größte Problem seines Lebens gelöst worden. Als er zur Tür ging, sah er aus, als hätte er aus purer Erleichterung am liebsten zu pfeifen angefangen.
Monika steckte den Zettel in ihre Tasche. Sie hatte zwanzig Minuten verloren, aber das konnte sie Janne zuliebe ja bestimmt verkraften.
Der Mann mit den Brüsten war bewusstlos, nackt und mehr mit Blut verschmiert, als sie es je für möglich gehalten hatten, vor dem Västra Sjukhus gefunden worden. Der Dienst habende Chirurg hatte eine gerichtsmedizinische Untersuchung vorgenommen, Polaroidfotos angefertigt und danach die Polizei verständigt. Er erklärte, dass er sich Sorgen um die Sicherheit des Patienten mache, es liege ein Fall von grober Misshandlung vor, und er wolle auf seiner Station keine Gewalttätigkeiten erleben müssen. Nebenbei erwähnte er, dass den muskulösen Rücken des jungen Mannes zwei formvollendete Brüste zierten. Monika hatte sofort am nächsten Morgen vorbeigeschaut.
Der Mann mit den Brüsten war bei Bewusstsein, als sie kam. Er war schwer verletzt, wollte aber keine Anzeige erstatten, obwohl er den Täter kennen musste. Er glaubte nicht, dass er noch in Gefahr schwebte. Es sei ein Unfall gewesen, sagte er, sein Beruf, so wie ihrer, bringe eben Risiken mit sich. Sein Lächeln war überzeugend gewesen, trotz seiner geplatzten Lippe, als er ihre Frage nach seinen Brüsten mit einem Scherz abgetan hatte. »Die? Die sind total gefühllos und damit einer meiner wenigen Körperteile, die mir im Moment keine Probleme machen.«
Als Polizistin fühlte sie sich manchmal nicht nur den Tätern gegenüber hilflos, bisweilen war es fast schlimmer, wenn das Opfer die Zusammenarbeit verweigerte. Wenn sie Hilfe und Schutz anbot und dann abgewiesen wurde.
Aber jetzt musste eben Janne sehen, wie er mit der Sache fertig wurde.
Sie ging ihre Post holen. Das Fach war fast voll, was sie so schrecklich fand, dass sie am liebsten alles liegen gelassen hätte. Sie wusste ungefähr, was sich in diesem Stapel versteckte ‒ vor allem Mitteilungen von Menschen, die von ihr Dinge verlangten, für die ihre Zeit einfach nicht ausreichte.
Sie schleppte den Poststapel in ihr Zimmer. Einen Augenblick lang fühlte sie sich versucht, alles ungelesen in den einladenden blauen Papiercontainer zu stopfen, riss sich aber zusammen.
Ganz oben lag ein Fax von Håkan Götsten, Orthopädie, Västra Sjukhuset.
EILT SEHR.
Ruf! Mich! An!
Er hatte die Nummer seines Büros, seines Mobiltelefons und seines Europiepers hinterlegt. Sie schob die Unterlagen, die sie aussortiert hatte, in eine gelbe Plastikmappe, legte das Fax dazu und schrieb in großen Buchstaben: »DRINGEND!« darauf. Dann rief sie Håkan Götstens Mobilbox an und informierte ihn, dass ein tüchtiger Kollege namens Janne Larsson den Fall übernommen habe, er sei eben erst aus dem Erziehungsurlaub zurückgekehrt und werde sich sicher sehr bald melden.
Sie versuchte noch einmal Janne anzurufen, der jedoch nicht an seinem Platz war, wie sie besorgt feststellte.
Danach suchte sie sich die Unterlagen über den Mann mit den Brüsten heraus, zog Erik Olssons Zettel aus der Tasche und legte ihn dazu. Danach fühlte sie sich ein wenig besser, sie hatte Angst gehabt, ihn zu vergessen und ihn als gewaschenen und geschleuderten Papierklumpen in ihrer Hosentasche zu finden, wenn sie die Hose zum nächsten Mal anzog. Sie schrieb einige erklärende Zeilen und endete mit einem PS: Stell fest, ob der Mann mit den Brüsten Abzüge der Polaroidfotos hat ‒ besteht das Risiko, dass er sich als Erpresser versucht?
Schön. Zwei Sachen fast aus der Welt.
Sie fing an ihren Poststapel zu sortieren. Alles durchzuarbeiten, würde fast einen ganzen Tag in Anspruch nehmen. Danach wären die Unterlagen gelesen, die Briefe beantwortet, die Telefongespräche geführt und die Berichte geschrieben gewesen. Außerdem wären die Zeugen verhört und die Hintergrundinformationen überprüft worden. Das Fach wäre wieder leer gewesen, und Daga hätte sich Kommentare zu ihren Vorschlägen für weiter gehende Effektivierung der Tagesabläufe anhören müssen. Die Kollegen von der Wache Norrmalm hätten eine Unterschrift auf eine Liste bekommen, in der die Wiedereinstellung bestimmter ziviler Mitarbeiter gefordert wurde, und Monika hätte sich Zeit nehmen können, um die Personalzeitung zu lesen.
Das meiste aber würde sie niemals schaffen. Die Personalzeitung landete gleich im Papierkorb. Alles, was nicht dringend war, legte sie auf einen der wachsenden Papierstapel auf ihrem Schreibtisch. Was sofort erledigt werden musste, kam auf einen anderen Stapel, mit dem sie nach besten Kräften arbeiten musste. Vielleicht könnte sie Daga dazu überreden, Janne noch einen oder zwei Fälle zu übertragen, damit Monika sich auf Lottie konzentrieren könnte, sollte sich das alles nun tatsächlich als Mordfall erweisen.
Die Stapel schienen ihr sämtliche Energie zu rauben ‒ es schien keinerlei Sinn zu haben, irgendetwas anzufangen, sie würde ja ohnehin nicht einmal das Wichtigste schaffen.
Sie wünschte sich jemanden, mit dem sie reden könnte. Und weil sie niemanden hatte, versuchte sie es mit sich selbst.
»Etwas ist immer besser als nichts. Besser ein Drittel zu schaffen als ein Zehntel, ich kann nur einen Schritt nach dem anderen machen, eine Aufgabe nach der anderen erledigen. Also los!«
Sie begann mit einer Sache, die eigentlich schon längst hätte abgeschlossen sein sollen. Es ging um einen Russen, der sehr schnell eine Schwedin geheiratet hatte, deren Schwangerschaft ungefähr ebenso alt war wie die Bekanntschaft der beiden. Die Eheschließung und das erwartete Kind hatten die Ausweisung verhindert, weshalb der Mann jetzt ein Problem für die schwedische Justiz statt für die russische darstellte. Monika fand, dass seine neue Frau auf irgendeine Weise zur Rechenschaft gezogen werden müsste. Sie versuchte, das letzte Gerichtsprotokoll noch einmal zu lesen, verlor dabei aber immer wieder den Faden.
Als an die Tür geklopft wurde, war sie froh über diese Unterbrechung.
»Monika, hier ist eine Zeugin für dich.«
»Das geht nicht. Ich muss all das hier erledigen. Außerdem soll ich mich auf Lottie Hagman konzentrieren.«
»Diese Zeugin will über Lottie Hagman reden. Sie ist außer sich vor Panik.«
»Hat sie etwas gesehen?«
»Das musst du sie selbst fragen ‒ ich weiß nur, dass sie glaubt, sie könnte eine ungeheuer wichtige Aussage machen, und dass sie Angst hat.«
Die Zeugin entpuppte sich als eine große Frau von Mitte siebzig, die wirklich verängstigt aussah, trotz ihrer trüben Blicke und der leicht verlangsamten Bewegungen, die Monika zu der Annahme brachten, dass eine Durchsuchung der Taschen dieser Frau mindestens eine Flasche mit Beruhigungsmitteln zu Tage fördern würde.
Die Frau reichte ihr zu ihrer Überraschung als Erstes einen in mehrere Plastiktüten gewickelten Gegenstand.
Monika nahm das Paket ‒ ein Buch? ‒ entgegen und stellte sich vor.
»Ich heiße Gerd Hellsing. Ich wohne im Kattgränd 6, in Söder, und ich muss ein Geständnis machen.«
Monika warf einen geschulten Blick auf die Unterarme der Frau. Runzlige weiße Haut hing locker über der wenigen noch vorhandenen Muskelmasse. Ihre Kraft reichte zweifellos aus, um eine Kaffeetasse zu heben, aber nie im Leben für den Mord an Lottie. Schade.
»Ja?«
»Ich habe überwacht, oder vielleicht sollten wir sagen, spioniert. Es steht alles in dem Buch. Ich brauche Schutz.«
»Vor wem?«
»Vor denen da draußen.« Sie beugte sich zu Monika vor. »Die Lottie umgebracht haben.«
»Wissen Sie, wer das war?«
»Die, die nicht wollten, dass alles herauskommt.«
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