Markus A. Sutter - Vorspiele

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Ein nächtlicher Anruf setzt Dinge in Bewegung: Marina, die Jugendliebe von Burger, sei gestorben und habe sich seine Anwesenheit bei der Abdankung in Apulien gewünscht. Während der Nachtzug südwärts fährt, reist Burger in seinem einsamen Abteil in die Vergangenheit. Ein Notizbuch, das mit dem Wort «Adieu» beginnt, führt ihn zurück in die Zeit ihrer ersten Trennung, als sie beide eben das Dorf der Kindheit verlassen hatten: Sie, um in der Welt das Tanzen zu lernen. Er, um die Musik zu finden, die im Dorf stumm geblieben war. Ort für Ort durchquert Burger seine eigene Geschichte auf der Suche nach der gemeinsamen mit Marina. Er besucht das Küngelhaus, wo er mit seinen Bandkollegen Wanner, Stüten und Troller den Blues probte, das Brunnenhaus, wo ihn die Sprache verließ, die Schürmatt, wo er verwilderte und lernte, die Erde unter den Füssen wieder zu spüren. Dazwischen tauchen Fetzen aus der Kindheit auf, Begräbnisse, der Kreuzweg, das Konzert in der Turnhalle. Marina, in der gemeinsamen Nacht beim tosenden Wasser. Als sein Rückblick das Abbruchhaus erreicht, wo er und Marina eine Studienzeit lang zusammenwohnten, scheint sich im Nachtzug eine geisterhafte Präsenz zu regen.

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Vorspiele - изображение 1

Markus A. Sutter

Vorspiele

Roman

FürAnnelore Angelika Aurelia Bendicht Die Griechen betraten das Reich der - фото 2

FürAnnelore

Angelika

Aurelia

Bendicht

»Die Griechen betraten das Reich der Toten rückwärts:

Was sie vor sich hatten, war ihre Vergangenheit.«

ROLAND BARTHES

»You’ll know me because I’ll be the only one in disguise.«

TOM STOPPARD

Anfang

IKÜNGELHAUS

Erste Unterkunft

Nachtzug, 19 Uhr

Gegenden der Kindheit

Nachtzug, 20 Uhr

Klangsturz

Nachtzug, 21 Uhr

IIBRUNNENHAUS

Das Angebot

Maiandacht

Nachtzug, 22 Uhr

Pfingsten

Nachtzug, 23 Uhr

Verstummen

Grossvater

Nachtzug, 24 Uhr

IIISCHÜRMATT

Erden

Talschaft

Nachtzug, 1 Uhr

Studientag

Nachtzug, 2 Uhr

Grabschweine

Nachtzug, 3 Uhr

Der Magier

IVMARINA

Marina

Nachtzug, 4 Uhr

VABBRUCHHAUS

Die Residenz

Die Pinguinbar

Vermittlung

Einzug

Nachtzug, 5 Uhr

VIMASKENTANZ

Burger

Harri

Walter

Kuppler

Glücksritter

Liebeskind

Zehnder

Maskentanz

Geschwister

Nachtzug, 6 Uhr

Leichenmahl

Nachtzug, 7 Uhr

VIIDAS HAUS, IN DEM MAN SPIELT

Oberhofer

Nachtzug, 8 Uhr

Grüninger

Nachtzug, 9 Uhr

Zugänge

Nachtzug, 10 Uhr

Oben und unten, Innen und aussen

Nachtzug, 11 Uhr

Das Vorspiel

Das Geheimnis

Abschied

Ankunft

Dank

Über den Autor

In der Nacht schrillte das Telefon. Dem gebrochenen Deutsch entnahm er, dass sie gestorben und er zur Abdankung und zum Totenmahl eingeladen sei. Inständig habe sie um seine Anwesenheit gebeten. Wenn er einen der nächsten Nachtzüge nehme, bleibe genug Zeit. – Burger, in der einen Hand den Hörer, musste sich mit der anderen an der Wand abstützen. Wie ist sie denn …, wollte er anfangen, bemerkte aber sogleich die Unerträglichkeit der Frage. Weder für ihn noch für den Anrufer war jetzt ein Gespräch möglich. Wie in Trance stimmte er zu.

»Sicher«, sagte er. »Ja, mit dem Nachtzug. Ciao.«

Burger setzte sich. Er zog die Schirmlampe herunter, damit ihn die Glühbirne nicht blendete. Starrte in den gelben Steinholzbelag seiner Wohnstube. Fuhr mit zwei Fingern den verschmutzten Fugen in der Kirschholzplatte entlang, bis einer der Nägel brach.

Das Verhängnis hatte sich schon gestern angekündigt, als er mit der Standbahn auf den Kulm geflüchtet und mehr verstört als befreit worden war. Obwohl die Vorhersage klare Fernsicht in den Bergen angekündigt hatte, war der Himmel überschliert und die Novembersonne frostig. Die Wiesen mit den letzten sterbenden Blümchen schwammen im Schmelzwasser des ersten Schnees. Ein trudelnder Sommerfalter, der trotz wildem Flattern am Ende dem Eisschnee erlag, erschütterte Burger. Vor dem langsamen Ertrinken der Gondelbahn in der Nebelnacht erfasste ihn der Drang, über Bord zu gehen und auf den Wogen des Meeres zu treiben. Schon beschlug sich aber das Kabinenfenster und das Glas wurde milchig. Weit unten reihten sich die Fahrzeuge wie Grabsteine. An der Talstation wartete der Bus. Stur lotste der Fahrer seine Fracht unter dem verschleierten Licht der Strassenlampen durch den zähfliessenden Verkehr. An Burgers Haltestelle vergass er einzubiegen und entschuldigte sich nur der Form halber. Burger musste an sich halten, um nicht die Fassung zu verlieren. Auf dem Fussweg zurück wurde er von Ahnungen heimgesucht. Im Gespinst, durch das er sich tastete, verhedderte er sich und kam zu Hause an wie ein Verhafteter.

Seine Befürchtungen bewahrheiteten sich jetzt. Erinnerungen brachen über ihn herein. Ereignisse von einst überfluteten ihn. Zwanzig, dreissig Jahre und mehr waren es her. Immer weiter zurück schien er gezerrt zu werden, immer tiefer in den Brunnen seines Gedächtnisses zu fallen. Orte, die ihn geprägt hatten, zogen an ihm vorbei. Ein Abbruchhaus. Ein Bauernhof in den Bergen. Ein Haus voller Kaninchen. Momente, die ihn einst zeichneten. Der Verlust der Sprache. Ein Konzert in der Turnhalle. Eine Nacht am Wehr. Es erschienen Menschen, die er verlassen und nie mehr gesehen hatte. Eine ganze Talschaft. Wohngemeinschaften. Eine Gruppe von Musikern. Dorfbewohner. Es wollte nicht enden.

Und immer wieder sie . Er hätte sich neben sie setzen, sie festhalten, sie in die Arme nehmen wollen. Eine Sehnsucht nach Wärme und Berührung überkam ihn, durchschüttelte ihn. Zu ungeduldig vielleicht. Zu eingeschränkt vom Drang und vom eigenen Unvermögen. Das Festhalten der Bilder wollte nicht gelingen. Seine eigene Geschichte durchquerte und verbarrikadierte den Weg zu ihr. Was blieb war das Gefühl der Trennung.

Von Weitem hörte er den Zeitungskurier. Wenn sich die Wagentür öffnete, wummerte Musik heraus. Je näher, desto lauter, desto tiefer der nachfolgende Fall in die Stille. Bei einem nächsten Stopp erschallte das Zeitzeichen, danach eine dröhnende Stimme mit den Nachrichten. Burger war gebannt vom Aufstossen und Zuschlagen der Tür. Erst das Scheppern des eigenen Milchkastens erlöste ihn.

Er begann mit den Vorbereitungen. Zuerst fing er an, einen Koffer zu packen, entschied sich dann aber doch für eine Tasche. Er ging zur Arbeit, organisierte eine Vertretung, für die er Dringlichkeitslisten und Lernprogramme erstellte. Der Rektor hatte ein Einsehen und gab ihm so viele Tage Urlaub, wie er benötigte. Er wünsche ihm alles Gute auf seiner Fahrt in die Vergangenheit, sagte er.

»Der Süden Italiens ist Neuland für mich«, stellte Burger klar.

»Umso vertrauter scheinst du mit der Verstorbenen gewesen zu sein.«

»Schon«, antwortete er und verabschiedete sich mit einem Wink der Hand.

Auf seiner Fahrt wollte Burger Ruhe haben. Den Mitreisenden aus dem Weg gehen. Sich ungestört in die alten Zeiten vertiefen und die Geschichten, die ihn mit ihr verbanden, in Erinnerung rufen. Der Nachtzug in zwei Tagen bot ein ganzes freies Abteil. Ohne Zögern griff er zu.

»Gute Reise, Herr Burger«, sagte die Bahnassistentin. »Geniessen Sie die Ferien.«

Die Taxifahrerin wartete bereits, der Motor lief, das Gepäck war im Heck verstaut, als Burger noch einmal die Gartentreppe hinauf zurück ins Haus rannte, um ein handkleines, in braunes Kunstleder gebundenes Notizbuch aus dem Regal zu fischen. Vor Jahren hatte er Strassen, Häuser und Daten, Namen von Freundinnen, Freunden und Bekannten festgehalten. Details von Begegnungen, Aussprüche und Zitate fanden sich darin. Die Seiten waren mit feinem Minenstift vollgeschrieben und ähnelten den Mikrogrammen eines bekannten Schriftstellers. Mit den aktuellen Ereignissen von damals, dem Verlassen der Stadt am Fluss und der zweiten Trennung von ihr, hatte er die Notate auf der hintersten Seite begonnen, um im zeitlichen Rückblick und räumlichen Nach-vorne-Blättern zur Front des Notizblocks zu gelangen. Das Langvergangene kam jetzt wie in einem gewöhnlichen Geschichtenbuch zuerst. Burger stellte sich vor, während er zwei Stufen der Gartentreppe auf einmal übersprang, dass er mit den Seiten des Büchleins ebenso umspringen und die Zeiten auffächern und nach Belieben abblättern wollte.

»Nicht gerade die Saison, um in den Süden zu fahren«, bemerkte die Fahrerin durch den Rückspiegel, nachdem er ihre Frage, wohin es denn gehe, unvorsichtigerweise mit »Apulien « beantwortet hatte.

»Sind da nicht die Stürme los und die Strände leer?«

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