Jeden Abend im Mai pilgern wir in die Marienandacht. Die Kirche ist unser zweites Zuhause. Die Jungfrau unsere Verehrte und Angebetete. Sie besitzt die Fähigkeit, unsere gläubige Hingabe in Liebesgefühle zu verwandeln. Unter Mithilfe der Frühlingsdüfte schmelzt sie unsere Gebete in Leidenschaft um. Wir strampeln per Rad in das nächste Dorf. Der spitz aufschiessende Kirchturm winkt von Weitem. Schwalben durchschrillen die laue Luft. Amseln quirlen ihre Gesangsschleifen vor die rosa Horizontbänder. Wir knien nieder und beten sie an, die Gnadenreiche. Sie thront auf einem Sockel. Hält das gewickelte Söhnchen an der Brust, den Verstorbenen auf den Knien. Wir scheelen über den Mittelgang, blenden die Augen auf und singen einander zu, ohne uns eines Widerspruchs bewusst zu sein. Zum Dank dafür breitet Maria ihren Mantel aus, macht Schirm und Schild für uns daraus. Wir schmettern das Lied, sodass der riesige Raum widerhallt und die Litaneien zu tönen beginnen. Danach, wenn schon die Sterne glitzern, begleitet sie uns schützend in den Garten des Pfarrhauses. Während sie uns verhüllt vor der weiten breiten Welt, ducken wir uns kosend hinter die Büsche und spielen auf den Tastaturen unserer verbotenen Schallkörper.
Die Kirche bleibt unsere Richtschnur, auch als wir längst keine Messen und Andachten mehr besuchen. Du bist mit den Reiseplänen beschäftigt und hast für laufende Kurse und privaten Tanzunterricht zu viel Geld ausgegeben. Der Kostenplan für die Reise gerät ins Wanken. Der niedrige Lohn bei Comestibles Matteo Mastei bereitet dir Sorge. Du brauchst unbedingt einen zusätzlichen Verdienst und lässt dich bei Wattinger, dem Besitzer des Hotels Bahnhof, für das Nachtlokal, wie er es nennt, am Wochenende anstellen.
»Etwas freizügiger muss es dann aber schon gehen«, sagt er frank heraus. »Mit Kleidern vom Gemüsemarkt kann man keine Bar führen. Die Augenlider und Brauen nachziehen. Etwas Rouge kannst du auch vertragen. Und mit diesen langen Röcken kannst du weder einen Staat machen noch hinter einer Theke stehen.«
Du errötest verschämt nach seiner unverschämten Rede. Trotzdem gehst du auf das Angebot ein. Stellst dich hinter den Tresen und versuchst, den Gästen freundliche Augen zu machen. Deine Einkünfte hängen vom Umsatz ab. Obwohl unsere Trennung schon abgemacht und in Rufnähe ist, ertrage ich deine neue Stellung schlecht und hole dich morgens um zwei Uhr ab. Du zapfst Bier, schäumst Milch auf, mischst Getränke und legst deine dunkle Stimme wie Taue um die angepflockte Männerrunde. Unter die jungen Gäste, die deinetwegen gekommen sind, mischen sich auch altbekannte Dorfgrössen. Josef Schweiss, der Unterwäschehausierer, dreht mit seifenweissen Fingern einen Glaskelch unter seinen Augen. Sattler und Tapezierer Bösiger steht, als ob er eine Rede halten wollte. Doktor Schellenbaum lässt die Schlüssel seines Cabriolets wie Glöckchen vor seinen Augen tanzen. Daneben badet der Dorfschneider in einem Duftteich von Wildrosen. Alle rufen und nennen dich Maria, auch wenn sie wissen, dass Du auf den Namen Marina getauft bist. Sie machen dich zu ihrer Heiligen. Heben dich auf den Sockel und krönen dich zu ihrer Patronin. Du hast es aufgegeben, sie zu korrigieren. Schliesslich liegen sie dir zu Füssen. Sie umwerben dich und lassen stets ein grosszügiges Trinkgeld springen. Dass sie ihrerseits ein Garn um dich winden, Erwartungen haben, übergehst du grosszügig. Gönnerhaft neigt sich Filialleiter Tschumper herüber und greift nach deiner Hand. Neben ihm schlägt ein Hotelgast seine Knöchel auf den Tisch und ruft mit englischem Akzent eine Bestellung in den von Kerzenlicht zitternden Raum. Metzger Gantenbein schiebt eine Hinterbacke aufs Gestühl. Der Fassbauch hängt ihm in die Beine. Sein Haar duftet nach Apfelsine.
»Maria voll der Gnade«, brüllt er, »ein Bier.« Alle stimmen mit ein. »Maria«, rufen sie, um dich auf den Arm zu nehmen und anzuhimmeln. Sie flüstern über die Theke, dass du heute zum Vernaschen schön seist. Flirten mit dir über die Mole gelehnt. Gischten an Deine Ufer. Rollen auf deinen Strand zu. Und du lächelst. Wirfst dein Haar zurecht. Klimperst mit den getuschten Wimpern. Ziehst den ungewohnt kurzen Stretch über die Oberschenkel.
Ich sitze in der dunkelsten Ecke im Schummerlicht einer schlecht brennenden Kerze. Warte, bis die Bar endlich schliesst. Erinnere mich unserer Kindheit, unserer Kirchgänge im Mai, als die Jungfrau Maria unser Allerheiligstes war. Ich deklamiere im Stillen die damaligen Litaneien, vergegenwärtige die Lieder. Das Gebet in der Bar hört jeder, denke ich. Es wird zum öffentlichen Gut. In der Kirche versickert es allzu leicht in den Katakomben. Ich suche wieder deinen Blick, der heute allen, nur nicht mir gehört. Wie du das aushältst mit diesen stacheldünnen Absätzen, geht es mir durch den Kopf. Und immer die Frische, die Kesse und Schöne spielend. Maria, rufen die Männer jetzt im Chor. Ein Gelächter schwappt über die Bande. Du tischst Geschirr um. Die Tassen werden zu Rettungsbötchen auf dem Oberdeck der Kaffeemaschine. Zum Abfahren auf das Meer. Das Frühjahr. Mit dir. In die Maiandacht.
Aus einem fernen Abteil hörte Burger Stimmen. Eine laute Begrüssung war im Gange. Überraschte Ausrufe und Gelächter wirbelten durcheinander. Einige Bekannte schienen sich unverhofft begegnet zu sein. Burger nahm den Platz gegen die Fahrtrichtung auf der Korridorseite ein. Er wollte sehen, was vorging. Sogleich machte sich jenes Gramseln im Magen bemerkbar, das sich beim Rückwärtsfahren regelmässig einstellte. Wenn die Lichter, die Landschaft, die Häuser und Felder sich vor ihm entfernten, fühlte er sich, als würde der Boden unter seinen Füssen weggefahren.
Eine Person sprach jetzt allein. Die anderen hörten ruhig zu. Sie wird ihre persönliche Geschichte erzählen, vermutete Burger. Er sah zwei Männer an das Fenster lehnen. Die andern werden im Abteil sitzen oder im Durchgang stehen, dachte er.
Die Rückwärtsbewegung setzte ihm zu. Er hatte das Gefühl, die Gegenstände der Aussenwelt würden aus dem Nichts an ihm vorbeigeschleudert. Immer hatte er das Nachsehen. Eine Leuchtschrift, die er nicht lesen konnte. Eine mit Scheinwerfern angestrahlte Kirche, die er verpasste. Ein vorbeirasender Zug, der ihn unvorbereitet erschreckte. Burger hasste die Sicht auf das, was schon vorbei war. So wie er Abschiede hasste.
Einer der Männer löste sich vom Fenster und suchte die Toilette auf. Er trug eine Kippa mit verzierter Bordüre. Er lachte durch Burgers Fenster, winkte, als ob er die eben erlebte Überraschung als frohe Botschaft weiterverbreiten wollte. Beim Zurückgehen rief er, noch während er an seiner Hose nestelte, in den Flur:
»Das gibt es doch nicht. Darauf müssen wir anstossen!«
Getränke schienen vorhanden zu sein. Burger hörte das Knallen eines Korkens und die beinah feierlich anmutenden Glockenschläge von Gläsern. Wo sie die wohl aufgetrieben hatten, fragte er sich. Vielleicht von der Wagenführerin bekommen. Oder ein Verrückter hatte sie gar in seine Tasche gepackt. Das Gespräch ging in ein ruhiges Geplätscher und Geplauder über und vermischte sich mit dem übrigen Rumpeln. Ab und zu löste sich ein scharfes Lachen und schnitt eine Wunde in die Nacht. Die Tür war mittlerweile zugeschoben. Die Geräusche drangen gedämpft herüber, bis sie ganz verstummten und im Singen des Windes ertranken.
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