Durch ein seitliches Fenster fällt vom Zwetschgenbaum gedämpftes Licht. Im weichen Dämmer entdecke ich dich an der hinteren Wand. Wie ein Bauernmädchen im Sonntagsstaat stehst du da. Um dich herum, aufgereiht, an die Wand gelehnt oder übereinandergeworfen, Laubrechen und Besen, Harken, Pickeln und Schaufeln. Von deinen glänzenden Sandalen und deinen kleinen Füssen geht ein Leuchten aus, das auf die gehäkelten Kniestrümpfe, den blumenbesetzten Rock und die helle Bluse übergeht. Deine Eltern sind aus dem Süden Italiens ins Land gezogen, geflohen vor der Arbeitslosigkeit, vor den ewig schimpfenden Grosseltern, vor den kranken Onkeln und sich aufspielenden Tanten, vor der eintönigen Arbeit in den Olivenhainen, vor materieller Armut und seelischer Verödung. Sie glauben an die Zukunft im Norden, auch wenn sie keinen Beruf erlernen durften und jetzt Ziegelöfen bestücken und Spinnereimaschinen bedienen müssen, auch wenn sie sich nicht eingestehen wollen, dass ihnen das aufwühlende Farbenspiel des Meeres und das Hundegebell bei der Olivenernte fehlen.
Ihr mietet über der Kurzwarenhandlung des Dorfes eine Wohnung. Euer Weihnachtsbaum, der jeweils im Erker zur Hauptstrasse steht, ist immer der schönste im Dorf. Mit echten Engelshaaren, echten Engelsglocken und einem Musikdosengloria. Eure Sonntagskleider stechen alle anderen aus. Du bist im Dorf geboren und ein Kind des Dorfes geworden. Dein breites ovales Gesicht aber, die weichen Wangen, die ungezähmten, spröden, honigbraunen Haare, die Schattengruben in den Mundwinkeln, der Flaum auf der Oberlippe und die nachtdunklen Augen machen aus dir ein Bauernkind aus dem Süden. Du hattest mir einen Kuss versprochen und bist gekommen, um das Versprechen einzulösen. Ich zwänge mich durch das Räder- und Stangengewirr. Wir stehen voreinander und sind unschlüssig, welche Neigung unsere Köpfe einzunehmen haben, wissen nicht, wohin mit den Händen. Wir nippen eher, als dass wir von den Lippen kosten. Aber es ist ein Kuss, so echt wie die Engelshaare. Danach stehen wir verlegen. Ich gehe zur Tür und spähe durch einen Spalt. Als ich sehe, dass niemand auf dem Plattenweg daherkommt und die Lage unter dem Zwetschgenbaum ruhig bleibt, lasse ich dich durch die Öffnung entwischen. Einige ewige Sekunden später versuche ich Richtung Hauseingang zu schlendern, summend, als wäre nichts geschehen, als spürte ich nichts von der fiebrigen Kühle auf meinen Lippen.
Am nächsten Tag, auf dem Heimweg, bleiben wir an eurer Hausecke stehen. Die Daumen unter die Gurte deines Schulranzens geklemmt, zeichnest du mit dem Fuss Figuren in den Kies und sagst: »Meine Eltern küssen und umarmen sich beim Verabschieden immer.« Bevor ich etwas erwidern kann, drückst du mir einen Kuss auf die Lippen. Der Atem stockt mir. Du schaust mir mit Schalk in die Augen, drehst dich um und rennst davon. Ich sehe den wackelnden Ranzen an deinem Rücken. Die Daumen hast du noch immer untergehakt. Am nächsten Tag mache ich es dir nach. Der Abschied wird zu unserem Ritual. Es bleibt aber ein kurzes Zwischenspiel. Einige Schulkameraden verpetzen uns bei Fräulein Hungerbühler. Mitten im Unterricht ruft Felix: »Die haben schon geknutscht.« Und Hans: »Sie knutschen jeden Tag. Ich habe sie an der Hausecke gesehen.« Wir müssen nach der Stunde drinbleiben. Fräulein Hungerbühler redet uns ins Gewissen. Du schweigst. Zu stolz, um zu antworten oder einen Fehler zuzugeben. Ich hingegen fühle mich schuldig. Als sie nicht aufhören will, mich mit Fragen zu bedrängen, fange ich an zu flennen. Am nächsten Morgen steht Frau Heilig, die Hauswartin, mit ihrem Reisbesen beim Schuleingang. Kontrolliert mit flammendem Blick die Schuhe der Kinder. Als wir durchschlüpfen wollen, grummelt sie: »Ihr macht ja schöne Sachen.«
In unseren Kindheiten gibt es vorerst keine Badezimmer. Weder bei dir noch bei mir. Bei uns steht die Wanne auf vier verschnörkelten Füssen in der Kellerwaschküche. Sie steht an einer rau verputzten Zementwand zwischen dem tonnenförmigen Kupferkessel und der zierlichen Zentrifuge. Der Blick aus dem Fenster, von einer Schachtmauer beschnitten, geht auf die nahen Obstbäume von Eberhards hinaus. Die in der oberen Hälfte verglaste Aussentür legt im Morgenlicht vier helle Mosaiksteine in den Waschküchenboden. Von der Tür führt eine flache Rampe zur Hauseinfahrt und zum Garten. Dort spiele ich mit meinen Geschwistern, oft aber auch mit dir. Wir versuchen, Spinnen zu fangen, lassen Kieseln und Murmeln hinunterrollen, bauen kleine Hütten aus Laub und Holz und spielen Familie. An Samstagen, wenn der Vorplatz mit dem Reisigbesen gefegt oder mit dem Schlauch abgespritzt ist und dich die Glocken nach Hause gerufen haben, heize ich mit den Brüdern den Kessel ein. Danach sitzen wir zu zweit und zu dritt mit unserer perlweissen Haut in der überschäumenden Riesenmuschel, pflastern uns Schaumbärte an und kratzen uns die Rücken wund, während du in eurer verwinkelten Stube von deiner Mutter in einen Zuber getaucht wirst, um wie neugeboren, nach Seife riechend und frisch frottiert, daraus hervorzugehen.
Nach dem Einbau der Badezimmer bei euch und bei uns bleiben die Wannen weiter im Gebrauch. Am Vorabend werden die verschmutzten Wäschestücke darin in eine Lauge gelegt, am Wäschetag mit dem Stampfer durchgewalkt, wenn nötig im Waschtrog unter dem Fenster geschruppt und dann zum Kochen in den Kessel geworfen, bis sie mit einem Holzbleuel oder einer langen Holzkelle wie tote Fische aus dem siedenden Wasser gezogen werden. Das Spülen ist eine nasse und langwierige Arbeit. Im Winter setzt es kalte, käsige Hände und Arme ab, bis endlich die Seife ausgeschwemmt ist und die klatschnassen Wäscheballen unter Wimmern und Dröhnen in der Zentrifuge ausgeschwungen werden können.
An Wäschetagen legen unsere Mütter von innen den schwarzen Schlüssel um, öffnen die Türen und lassen die Sonne ein, um ihre Gelten und Zainen voll duftender Wäsche an die freie Luft zu tragen. Du bist Einzelkind. Wir sind eine grosse Familie. Bei uns stehen der Einfahrt und dem Schuppen entlang verzinkte Stangen mit je zwei schneckenförmigen Haken daran. Einmal im Jahr schlauft mein Vater neue Drähte ein und spannt sie. Das reicht für den Wäscheberg von sieben Kindern aber nicht aus. Meine Mutter haspelt darum vom Holzwickler eine Leine ab, befestigt sie am nächsten Telefonmast und an unserem Berner-Rosen-Baum, von dem ich dir im Herbst jeweils einen Pausenapfel mitbringe.
Die Trommelwaschmaschine erreicht unsere Haushalte etwa zur selben Zeit. In den Waschküchen vollzieht sich ein zarter Funktionen- und Generationenwechsel. Es wird stiller um sie. Sie werden die heimlich Vertrauten von uns Heranwachsenden, weil sie Hintertüren bieten und damit einen versteckten Zugang ermöglichen. In der Regel ist die Türe geschlossen. Aber der Schlüssel steckt immer. Jahre später, in einer Sommernacht, machen wir uns die Waschküchenausgänge zunutze und stehlen uns davon. Nicht zusammen, das hätte Aufsehen im Dorf erregen können. Wir gehen zur abgemachten Zeit in unterschiedliche Richtungen los. Ich nehme das Rad aus dem Geräteschuppen, fahre bei lauer Luft über einige Hinterwege zum Bahnhof, dann durch den tief liegenden Pfad zwischen Geleisemauer und Getreidesilo, an der Villa der Müllersfamilie vorbei bis zur Kanalbrücke und zum Bahnübergang. Schon von Weitem höre ich die Schranke schellend heruntergehen. Der Zug rollt heran. Die hellen Fenster zucken wie Lichtbilder vorbei. Ich verfolge einen Passagier, verliere ihn aus den Augen und drehe den Kopf zurück zum nächsten. Mein Kopf gerät ins Schütteln, als würde ich Nein sagen. Dann knarren und zurren die Drahtseile und die Schranke bimmelt wieder hoch. Ich schwenke in die Kanalstrasse ein. Die Siedlung der Spinnereiangestellten bildet einen Riegel gegen den Mühlewald. Die Fabrik auf der Kanalseite, wo deine Mutter arbeitet, ist durch ein Gittertor geschlossen, der Innenhof von einem Scheinwerfer ausgeleuchtet. Aus den Gebäuden dringt das Klopfen und Summen der Nacht- und Maschinenschicht. Nach der Passage eines Turbinenhauses gerate ich auf einen Feldweg. Vorerst von einer hohen Böschung des Damms begrenzt und von Pappeln gesäumt, wird er in der Ferne zusammen mit dem Kanal von einem Waldgürtel verschlungen. Ich beschleunige meine Fahrt, will dich nicht warten lassen. Der Wind lässt mein Hemd flattern. Ich tauche ins Dunkel des Waldes. Ich höre das Wimmern des Dynamos und folge dem voraustastenden Fleck des Radlichts.
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