Barbara hakte sich bei mir unter. Im Paarschritt umgingen wir das Kesselrund. Ich fühlte die Wärme ihres weichen Leibes an meiner Seite. Ihrem entschiedenen Griff merkte ich die Gärtnerinnenarbeit an. Sie überragte meine klein gewachsene Gestalt um einige Fingerbreiten. Ursprünglich stammte sie aus dem Nachbardorf, wohnte aber schon länger in der Stadt. Sie war alleine hergezogen. Meret hatte ihr von uns und dem Küngelhaus erzählt. Sie trug enge und zu kurze Jeans und eine über die Hüfte hängende Bluse. Zwischen Mundwinkeln und Nasenflügeln hatten sich zwei Falten gebildet. Wie eingraviert von ihrem rauchigen, dunklen und ansteckenden Lachen. Ich griff mit der offenen Hand in Barbaras ungezähmtes rotes Haar und versuchte sie an mich zu ziehen. Sie liess sich die Zärtlichkeit gefallen. Sie wollte ihren Durst nach Liebe stillen. Zwar hatte sie einen Freund im Dorf, bekam ihn aber nur alle paar Wochen zu sehen. Sie wusste, dass ich das verstehen und keine weiteren Ansprüche stellen würde. Später dürfte sie es auch ihrem Freund erzählen, wenn die Freundschaft gefestigt war und ein Zusammenziehen in Aussicht stand.
Barbara hatte von unserer Trennung gehört. Zu dieser Zeit warst du bereits unterwegs. Mit deinem Gespür für das Machbare und die Bedingungen für eine Frau im nahen und fernen Osten schlossest du dich einer Gruppe von Indienreisenden an. Einen grossen Teil der Strecke wolltet ihr per Anhalter zurücklegen, einen Aufenthalt in Teheran einlegen, um dann im damaligen Land der Sehnsucht, in Afghanistan, länger zu verweilen. Du immer auf der Suche nach den lokalen Tanzmeistern. Ich stellte mir vor, wie ihr mit weiten Kleidern durch die Basare Kabuls schlendert, wie ihr nachts im Steppengras liegt und euch am Himmel berauscht, der dort so leuchten soll wie nirgendwo. Afghanistan war einer der Träume, die du dir erfülltest. Ob es zu einer Beziehung mit einem der Reisenden gekommen war, wusste ich nicht, wollte ich nicht wissen, dazu war ich zu eifersüchtig.
Nachdem Barbara und ich eine Runde abgeschritten hatten, trafen wir wieder auf Danielle. Sie lachte und lockte Troller in gespielt laszivem Tanz zu Stüten hinüber, der etwas ausserhalb des Geschehens als stangenlanger Heiliger an einer Säule lehnte. Obwohl Leadgitarrist, war Stüten gehemmt. Seine Grösse und sein Frank-Zappa-Schnurrbart, das schulterlange rote Haar hätten aus ihm einen Seemann oder sonst einen Abenteurer gemacht, wenn er denn nicht so zerbrechlich dünn und weisshäutig gewesen wäre. Im Wirtshaus konnte er vor einem Bier sitzen, den Fuss des Glases halten und stundenlang in den Schaum hineinlachen. Als Schriftsetzer war er beliebt. Ohne den üblichen Gewerkschaftskram fügte er Bleiletter an Bleiletter. Die stoische Regelmässigkeit machte ihn zu einem effizienten Arbeiter. Wenn jemand einen Witz riss, klopfte er sich auf die Schenkel. Stüten liess sich die Anwerbung von Danielle gefallen. Heuschreckengleich schritt er in die Runde und begann mit seinem überlangen Leib zu schlenkern, sich zu drehen und mit den Beinen in den Raum hineinzufahren, als ob er die Pedale eines überdimensionierten Tretrades zu bedienen hätte. Er geriet in Rücklage und fiel auf die Tanzfläche. Troller und Danielle hüpften um ihn herum wie Nachtklubtänzerinnen. Stüten kam vor Lachen nicht hoch. Die Musik wälzte sich vorwärts. Eine Lichtorgel begann über dem wogenden Händemeer zu kreisen und verwandelte den Kesseldom in eine kosmische Sphäre. Das ganze Gewölbe tönte in wechselnden Farben. Für einen Wimpernschlag wurde die Harmonie der ewigen Gesetze sicht- und hörbar. Hier war die Erdachse. Unter der Kuppel dieses Gaskessels wurde der Welt ein neues Drehmoment verpasst.
Wir strömten aus. Jeder ein Trabant für sich. Vergassen uns selbst. Ich hörte Barbaras rauchiges Lachen hinter mir. Wir fassten uns an den Händen. Hätten uns noch Stunden so gedreht, wäre nicht Troller auf uns zugekommen.
»Ich möchte gehen«, sagte er. »Stüten steht schon an der Tür.«
Meret und Wanner warteten bei der Tiefgarage. Auf der Heimfahrt war es still. Das Schlagen der Autotüren hallte vom nachtdunklen Saum des Waldes wider. Wie Schatten drängten wir uns den Treppenschacht hoch und verschwanden im Küngelhaus. Die Bettenverteilung ging einfach. Nur zwei Zimmer standen zur Auswahl. Beide küngelhausklein und von der Dachschräge in der Höhe eingeschränkt. Beide mit gewachsten Tannenriemenböden und Täfelungen, auf denen der gleiche dicke Lack glänzte wie im Probelokal. Im einen standen das Bett von Troller beim Eingang, dasjenige von Stüten mitten im Zimmer und meines senkrecht zu den anderen mit Kopflade gegen die Fensterfront. Danielle legte sich zu Troller. Stüten lag als Wächter alleine. Barbara schmiegte ihren Gärtnerinnenleib an mich, sie mit schlechtem Gewissen gegenüber ihrem Freund, ich mit Erinnerungen an dich. Das andere Zimmer stand Meret und Wanner zu, weil sie ein festes Paar bildeten. Die beiden hatten sich sofort zurückgezogen. Noch lange ertönte aus ihren Lautsprechern verhaltener Blues und schützte die Liebenden vor dem Zugriff fremder Ohren. Alle lagen unter ihrem Klangzelt und liessen sich vom gespannten Netz der Basslinien auf dem geschotterten Untergrund des Schlagzeuges tragen. Nachts knallte der Dachstuhl, hämmerte die Wasserleitung, kratzten und tapsten die Mäuse, schlugen dumpf die Küngel an ihre Stallbretter. Und es rischelte die Strohschütte.
Anfänglich war im Zug ein Gehen und Kommen. Aus dem Grubenlicht der Bahnhöfe stiegen Passagiere zu. Mitreisende, mit denen gerade noch ein Gefecht über Fussball geführt worden war, verliessen die Bahn. Die Weiterfahrenden standen im Korridor wie Hinterbliebene und beobachteten durch trübe Fenster die Flüchtenden, die Ausgemusterten, die Beurlaubten, wie sie ihre Füsse vertraten und verloren auf der Plattform ihres neuen Lebens standen, wie sie auf einen der tempelhohen Ausgänge zustrebten oder sich einer wartenden Person um den Hals warfen. So nahe man sich beim Gang auf die Latrinen und in die Waschkabinen gekommen, so eng man im Couchette gesessen hatte, wo man Armlehnen geteilt, Füsse zwischen die Beine des Gegenübers platziert, fremde Gerüche eingeatmet hatte: Man wird sich nicht mehr sehen. Der Abschied ist einer für immer.
Burger hatte die Vorhänge seines Abteils offengelassen. Er mochte das Bewegen, Wechseln und Promenieren auf dem Gang, die Blicke durch das spiegelnde Glas auf die Passagiere, die Bahnhöfe, die zu einzelnen Lichtern reduzierte Nachtlandschaft draussen. Die Störungen halfen ihm beim Nachdenken und Zurechtrücken seiner Vorstellungen. Anhand eines Stichwortes am Seitenrand hatte er sich von seinen Notizen gedanklich entfernt. Weit zurück in die Kindheit war er geraten in eine Zeit, als sie beide, er und sie, noch zusammenspielten, noch zur Schule gingen und sich beinah täglich besuchten, zusammen Bildbände anschauten über ferne Länder, Asien, Afrika, Japan, und über die Museen der Welt.
Ich bin etwa zehnjährig, als ich an einem späten Nachmittag nach Hause komme und mit dem Vorderrad in die Tür des Geräteschuppens stosse, wo neben Werkzeugen, einigen Blumenzwiebeln, Gartenschuhen und Überkleidern vor allem die Fahrräder untergebracht sind. Es ist ein einfacher Anbau zum Wohnhaus. Die ausgebleichte, ehemals graue Farbe an der Holzverschalung und der Schatten eines Zwetschgenbaums verleihen ihm etwas Geheimnisvolles. Die Kinder des Dorfes spielen gerne hier. Wir klettern das Regenrohr hoch, hängen uns an die Traufe und lassen uns hinunterfallen. Die Grösseren und Mutigeren ziehen sich bis auf das Blechdach, nehmen Anlauf und springen über den Plattenweg und die Wäscheleine mit gewagtem Satz ins Gras. Heute liegt der Schuppen verlassen da. Ich beuge mich über die Lenkstange, drücke die Falle und schlage mit dem prallen Reifen die Türe auf. Ich hebe das Rad über die Steinschwelle und schiebe es in eine Lücke.
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