An einem Abend schwenkte er ums Eck und stellte sich an die Sandsteinstufe des Eingangs. Er suchte das Gespräch. Ihn schien etwas zu belasten, das er loswerden wollte. Wanner, der die Gemütslage des Vermieters am besten kannte, ging nach draussen und fragte, ob er helfen könne. Ich folgte zögerlich, blieb im Hintergrund. Der Vermieter rückte mit nichts heraus. Stand da, als ob er von Wanner etwas erwartete. Seine Hose hatte er oberhalb der grossen Bauchwölbung gegürtet. Die Hosenstösse reichten nicht über die Schuhschäfte. Zwischen Schaft und Hosenschlag quollen die Wollsocken hervor. Im Schritt spannte die Hose. Das Gemächt zeichnete sich ab.
»Waren etwas wild heute?«, fragte Wanner.
»Ja, ja«, kam die Antwort zögerlich.
»Haben ordentlich an Gewicht zugelegt.«
»Es braucht schon noch einiges. Ich gebe sie nicht gerne zu früh. Wenn das Fell so schön glänzt, möchte ich sie am liebsten behalten.«
Ein Wort gab das andere. Von den Küngeln kam er zur Geschichte des Hauses, zum Feuerschauer, der ihm den Kamin nicht mehr abnehmen wollte, zum Verkehr auf der neu geteerten Strasse, der seine Frau nicht schlafen lasse. Sie habe es nicht mehr gut, sagte er und begann, von ihr zu erzählen. Als ob er sich für sie entschuldigen wollte. Nachts geistere sie in der Wohnung herum. Suche nach längst fortgeschafften, nicht mehr gebrauchten Dingen. Rufe nach der Tochter, die vor Jahrzehnten gestorben sei. Lange könne sie nicht mehr bei ihm sein. Schwermütig sei sie. Das laste auch auf ihm. Die einzige Abwechslung seien für ihn die Küngel. Obwohl die Knöpfe offen waren, schob er alle paar Sätze den Unterkiefer vor, als müsste er seinen Hals von einem engen Hemdkragen befreien. Beim Vorschieben des Kinns stülpte er die Unterlippe um, und beim Zurücknehmen schwoll das Doppelkinn an. Die grau durchsträhnten Haare waren mit einem öligen Gel an den grossen Schädel geklebt. Die vorgewölbte Stirn blieb beim Reden glatt wie bei einem Kind. Die kleinen Augen schauten nach innen. Während der Vermieter dastand und beide Beine belastete, die Arme steif an den Leib drückte, die Schultern angezogen hielt, als ob er nie ganz ausatmen könne, stand Wanner ihm gegenüber in der Türlaibung, eine Schulter angelehnt, Hände in den Taschen, und spielte mit dem einen unbelasteten Fuss auf dem Scharrgitter.
»So ist es halt«, sagte der Vermieter unvermittelt. »Ich will Sie nicht länger aufhalten«, sagte er und ging.
Der Vermieter fühlte sich von Wanner verstanden. Das hatte seine Gründe. Wiewohl langhaarig, trug er meist das blaue kragenlose Bauernhemd mit der vielfach eingewobenen Edelweissblüte. Dazu hängte er sich eine Taschenuhr mit Kette an. Lederriemen, wie er sagte, schnalle er sich keine um das Handgelenk. Über die Qualität einer Cordhose entschied das Vorhandensein eines Uhrtäschchens am Hosenbund. Dünn besohlte oder gar spitze Lederschuhe verabscheute er, weil sie ihm ein Tänzeln beim Gehen aufnötigten. Seine Rebellion bestand darin, dass er nicht allem Neuen zustürzte, sondern in der vorhandenen Umgebung nach Ursprünglichkeit suchte und sie in der Elterngeneration noch zu finden glaubte.
Ich hatte Wanner einmal in seinem Elternhaus besucht und war betroffen gewesen, in welch ungebrochener Einheit ich ihn mit seiner Herkunft fand. Gartenhausklein, das Gebäude am Rande des Dorfes. Eine Stube, die nach dem wollenen Tuch auf dem Tisch und nach dem von der Sonne erwärmten Holz roch. Ich sass auf der äusseren Kante einer Eckbank. Wanner kniete vor einem Regal und durchsuchte einen Stapel Schallplatten. Er sprach über seinen Vater, den Briefträger, der noch immer lieber zu Fuss mit der Post durch das Dorf gehe, wenn nötig einen zweirädrigen Kistenwagen vor sich her stosse, statt ein Moped zu nutzen. Da hetze man nur nach Hause, habe der Vater gesagt, sei steif vom ewigen Sattelsitz und erledigt vom Sekundenknattern des Motors. Wanner hob den Deckel eines hölzernen Radiogehäuses und legte eine Schallplatte auf den Teller des eingelassenen Abspielgerätes. Er schwenkte den Tonarm soweit nach aussen, bis es knackte und die Scheibe zu drehen begann. Um die Nadel exakt in die vorher ausgezählte Leerrille zu setzen, neigte er den Kopf tief zur Seite. Seine Haare schleiften über das schwarzglänzende Vinyl der kreisenden Platte. Ein Knistern zuerst, dann ertönte der Blues. Wanner begab sich zum anderen Ende der Eckbank. Er schloss die Augen und wiegte den Kopf. Wenn die Mundharmonika aufspielte oder die Orgel hereinflutete, legte er den Kopf wie zum Sonnenbaden zurück. Eine hohe gepresste Männerstimme sang von Trauer und verlorener Liebe, von Sehnsucht und San Francisco. Jedes Wort spiegelte sich als ein Zucken und stummes Mitreden auf den Lippen von Wanner. Als der Tonarm in die letzte Rille auslief und nur noch ein ruckweises Klopfen hörbar war, sass er noch lange da, die Hände auf das Tischtuch gelegt, und sagte nichts. Die Stube des Briefträgers war zum geeigneten Resonanzkörper für Wanners Blues geworden.
Es war Mittag. Der Verkehr für eine halbe Stunde zum Erliegen gekommen. Über der Teerstrasse flirrten und flimmerten die Spiegelungen der Hitze. Die Zeit stand still. Niemand wagte, die zähe Ruhe zu stören. Bis von der Kuppe ein Moped surrte. Den ganzen Morgen hatte Meret an der Töpferscheibe gesessen, Ton zentriert und geformt. Nun genoss sie das Ausfahren, den Fahrtwind, die Freiheit und das insektengleiche Surren des Motors, der auf dem Schutzblech des Vorderrades sass wie ein kleiner Tornister. Von Weitem schwenkte sie den Männerhut. Die leicht rötlich gefärbten Haare flatterten, die weisse Bluse plusterte sich im Fahrtwind auf zu einer Glocke. Die Schösse der Weste klatschten hin und her wie kleine Flügel eines Wasservogels. Sie fuhr an den Granitstein des Trottoirs, stützte mit dem rechten Fuss auf und legte das andere Bein quer in den Rahmen. Sie trug hohe, gelbe, stellenweise grau abgewetzte Schnürschuhe mit gerillten Sohlen. Die verwaschenen Jeans reichten nur bis zur Wade und liessen das Muschelweiss ihrer Haut hervorblitzen. Sie hatte wieder einmal eine Nachricht zu verkünden. Im Kleintheater spiele Isla mit seinem Trio, rief sie. Das müsse man gehört haben. Wir verstanden nichts. Isla war uns kein Begriff. Entschlossen nahm sie einen Bildband vom Gepäckträger, kam die Treppe hochgerannt und stand schon in der Küche. Die nussbraunen Augen weit aufgesperrt. Die Wangen pflaumenviolett überschossen. Isla, der Bassist, und sein Trio. Das sei ein Muss.
»Natürlich kommen wir. Am Samstag?«
Sogleich war sie beim nächsten Thema. Sie hatte in den Tagesmeldungen von Überschwemmungen gehört. Entsetzte sich über Ungerechtigkeiten und den zeitlichen Verzug der Hilfslieferungen. Kinder waren betroffen. Tränen stürzten ihr aus den Augen. Ihre Gesichtshaut wurde gefleckt. Dann zeigte sie den Bildband her. Sie habe ihn nur ausgeliehen. Müsse ihn unbedingt kaufen. Wahnsinnig, die Schönheit dieser Menschen, schwärmte sie. Im Band waren absonderliche Gestalten abgebildet. Verwachsene, Gebuckelte, Riesen und Zwergwüchsige, Ausschnitte von Füssen mit Schwimmhäuten, von Brüsten mit vielen Warzen, von Frauen mit nabellangen schwarzen Bärten. Meret fieberte. Die Wangen noch nass von Tränen, lachte sie wieder. Vor Freude. Ergriffenheit. Klingendes Schellen und kehliges Gluckern lösten sich ab. Sie vergass die Umgebung. Bei jedem Umblättern wurde es wahnsinniger. Die Lippen waren aufgeschwollen. Sie bekam etwas Stülpnasiges und Lüsternes. Mitten in der Betrachtung griff sie nach Wanners Uhr. Ich muss gehen, rief sie. Rannte los, startete das Moped. »Bis Samstag«, schrie sie, schwenkte den Hut und weg war sie.
Als ich sie am Abend mit Wanner in ihrer Töpferwerkstatt abholte, waren die Lippen wieder schmal, das Flackern in den Augen dem ruhigen Blick gewichen. Die Stirn gesenkt, drehte sie in die feuchte, gestaltlose Masse von Lehm luftleichte Formen von Vasen und Krügen.
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