Hyperion, ein junger Grieche, sieht die Vergangenheit seines Vaterlandes mit den Augen Winckelmanns (vgl. ↑und Kap. 6, Anm. 2) und betrauert den Verlust der »edlen Einfalt und stillen Größe«. Sein eigener elegischer Charakter und das stürmisch drängende Temperament seines Freundes Alabanda lassen ihn zwischen Reflexion und Tatendrang schwanken und vergeblich versuchen, »Eines zu sein mit allem, was lebt«. – Endlich findet er diese All-Einheit 6sinnbildlich verkörpert in der Schönheit Diotimas und glaubt, beflügelt von der Liebe zu ihr, Geist und Herz seines Volkes zu der verlorenen Harmonie antikisch vollkommenen Menschentums zurückführen zu können. – Entgegen der Warnung Diotimas nimmt Hyperion auf Alabandas Veranlassung teil am Befreiungskampf der Griechen gegen die Türken (historisch 1770). Doch er muss einsehen, dass mit einem plündernden und mordenden Partisanenheer kein »Elysium gepflanzt« werden kann. Das Unternehmen scheitert, und beschämt sagt sich Hyperion als der Geliebten unwürdig von Diotima los. Diotima, die Hyperion versteht, entsagt der Verbindung mit ihm und stirbt. In ihrem letzten Brief tröstet sie den Geliebten mit pantheistischen Gedanken:
Die schöne Welt ist mein Olymp; in diesem wirst du leben, und mit den heiligen Wesen der Welt, mit den Göttern der Natur, mit diesen wirst du freudig sein. […] ich hab es gefühlt, das Leben der Natur, das höher ist, denn alle Gedanken – wenn ich auch zur Pflanze würde, wäre denn der Schade so groß? – Ich werde sein. Wie sollt ich mich verlieren aus der Sphäre des Lebens, worin die ewige Liebe, die allen gemein ist, die Naturen alle zusammenhält? wie sollt ich scheiden aus dem Bunde, der die Wesen alle verknüpft? […] Wir trennen uns nur, um inniger einig zu sein, göttlicher friedlich mit allem, mit uns. Wir sterben, um zu leben. […] Priester sollst du sein der göttlichen Natur, und die dichterischen Tage keimen dir schon.
Hyperion, unglücklich und enttäuscht über das kleinlichnüchterne Wesen der Deutschen in seinem Exil, findet tatsächlich Trost in der Natur.
Die Sprache in Hölderlins Briefroman ist bekenntnishaft und gefühlsdurchströmt, monologisch und von lyrischem Wohlklang, denn Hölderlin, der wie Hyperion seine geistige Heimat im antiken Griechenland suchte und dem es wie keinem anderen gelang, griechische Mythen und Versformen mit empfindsam-romantischer Innigkeit zu verbinden, ist einer der größten deutschen Lyriker. »Hyperions Schicksalslied« und die Gedichte »An die Parzen« und »Hälfte des Lebens« fehlen in keiner modernen Lyrik-Anthologie 7.Das einsame lyrische Ich in Hölderlins Gedichten spricht wie Hyperion meist religiös verehrend, mehr andeutend als ausmalend, immer wieder über Griechenland, Diotima und die Natur. 8
Wie der Erzähler Jean Paul und der Lyriker Hölderlin ging auch der Dramatiker HEINRICH VON KLEIST (1777 bis 1811) zwischen Klassik und Romantik seinen eigenen Weg. Er blieb von seinen Zeitgenossen unbeachtet und setzte seinem krisenreichen Leben mit vierunddreißig Jahren freiwillig ein Ende. Sein Werk wurde wie Hölderlins Dichtungen zunächst vergessen und erst im 20. Jahrhundert wiederentdeckt und gewürdigt.
Kleist, der eine Offizierslaufbahn abbrach, um sich geisteswissenschaftlich zu bilden, wurde von der Begegnung mit der Philosophie Kants tief erschüttert. Denn er missverstand Kants heuristische 9Trennung von Ding an sich und Erscheinung (in der Kritik der reinen Vernunft ) als Beweis für die grundsätzliche Unfähigkeit des Menschen, zwischen Wahrheit und Täuschung zu unterscheiden. Aus der Verwirrung durch die von ihm vermeinten allgegenwärtigen Täuschungen, meinte Kleist, helfe allein traumhaft unreflektiertes Handeln aus instinktsicherem Gefühl.
In der zum Verständnis Kleists wichtigen Studie Über das Marionettentheater 10(1810) wird die schwerelos frei pendelnde Marionette zum mythischen Sinnbild der von keiner Reflexion gestörten Anmut. Zwei als Beispiel dienende Anekdoten 11zeigen, »daß in dem Maße, als, in der organischen Welt, die Reflexion dunkler und schwächer wird, die Grazie darin immer strahlender und herrschender hervortritt«. – Das Problem vom trügenden Schein der Wirklichkeit und der Versuch, die Wahrheit traumhaft zu erfühlen, ist ein vielfach abgewandeltes Thema der Dichtungen Kleists.
In dem Schauspiel Amphitryon (1807) überwindet Alkmene die verwirrenden Täuschungen Jupiters durch das unerschütterliche Gefühl treuer Liebe. In der Penthesilea (1808) führt die Verwirrung des Gefühls gegenüber dem Griechen Achill zu einer leidenschaftlichen Hassliebe der Heldin, wie andererseits der traumerwachsenen Gefühlssicherheit des glücklicheren Käthchen von Heilbronn (1808) die beharrlichste Hingabebereitschaft entspringt.
Gefühlsregiert handelt auch der nachtwandlerische Prinz Friedrich von Homburg (1811): In Gedanken mit einem schönen Traumerlebnis beschäftigt, überhört er bei der Befehlsausgabe am Morgen der Schlacht seine Aufgabe im taktischen Plan und führt, den militärischen Befehl missachtend, seine Truppe nach der »Ordre des Herzens« voreilig zum Sieg. Der Große Kurfürst, der darauf besteht, »dass dem Gesetz Gehorsam sei«, weil es dem Vaterland nicht gleichgültig sein kann, »ob Willkür drin, ob drin die Satzung herrsche«, lässt den Prinzen, der einen glänzenderen Sieg verscherzt hat, durch ein Kriegsgericht zum Tode verurteilen. Der Prinz hält das Urteil zunächst für eine bloße Formsache und macht es durch trotzige Uneinsichtigkeit dem Kurfürsten unmöglich, ihn zu begnadigen (denn die Gnade setzt ja die Anerkennung des Rechts voraus). Als der Prinz bald vor dem drohenden Ernst des Urteils in demütigende Todesfurcht fällt und bereit ist, alle Ehre dem nackten Leben zu opfern, ruft der Kurfürst ihn selbst zur Entscheidung auf:
Die höchste Achtung […]
Trag ich im Innersten für sein Gefühl:
Wenn er den Spruch für ungerecht kann halten
Kassier ich die Artikel: er ist frei! –
Als Richter in eigener Sache überwindet der Prinz durch die Kraft des Ethos seine Todesfurcht. Seine freiwillige Anerkennung des Schuldspruches ermöglicht die Begnadigung. Nach der Versöhnung des allgemeinen Gesetzes ist der Kurfürst bereit, auch das innere Gebot des einzelnen anzuerkennen. Dass er dieses Kleistsche Organ der Welterfassung nicht, wie es zunächst schien, mit gesetzloser Willkür verwechselte, bewies er, indem er sich selbst an das Gefühl des Prinzen wandte. Nun trägt er dazu bei, dass sich des Prinzen hochfliegender Traum erfüllt: Er gibt dem Sieger von Fehrbellin Prinzessin Natalie zur Frau.
Heiter abgewandelt erscheint das Thema von Wahrheit und Täuschung im Lustspiel Der zerbrochne Krug (1808). Dort versucht der Dorfrichter Adam, der sich durch Schwindelei und Erpressung das holdselige Evchen gefügig machen wollte, als Ankläger, Richter und Verfolgter im selben Fall seine nächtliche Nachstellung zu vertuschen. Er spinnt aus lächerlichen, dreisten Lügen ein Netz, in dem er sich endlich selber fängt. Sein komischer Vertuschungsversuch steht in einem ironischen Gegensatz zum analytischen Aufbau des Spiels (vgl. Kap. 6, Anm. 29).
Als Erzähler von Anekdoten und Novellen 12stellt Kleist gern unwahrscheinliche Tatsachen dar. 13Dabei geht es, im Gegensatz zur idealen Anmut der Marionette, fast immer um das Aus-dem-Gleichgewicht-Geraten von Mensch und Natur.
In der Novelle Die Verlobung in St. Domingo (1801) erschießt der misstrauende Gustav »knirschend vor Wut« Toni, seine treue Braut, die zu seiner Rettung eine gefährliche Doppelrolle spielen musste.
In der Novelle Das Erdbeben in Chili (1807) gerät zuerst die Natur, dann die von einem Priester aufgehetzte Menge außer sich. Das durch das Erdbeben (1647) vom Tode gerettete Liebespaar Jeronimo und Josephe wird, als es für seine wundersame Rettung danken will, vom aufgebrachten Christenpöbel erschlagen.
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