Da der Zwiespalt zwischen Pflicht und Neigung (vgl. Anm. 21) im wesentlichen innerseelisch bleibt, fehlt Johanna der eigentliche Gegenspieler. Die Bühnenwirksamkeit des Schauspiels beruht auf opernhaften Schlacht- und Krönungsszenen und auf der teils lyrisch, teils pathetisch überhöhenden Sprachgebung.
Das letzte von Schiller vollendete Schauspiel ist Wilhelm Tell (1804), ein äußerst beliebtes Stück, dessen philosophischer Kern oft durch volkstümliche Überbetonung der patriotischen Tendenz verdeckt worden ist. Denn das Wesentliche in diesem Kampf zwischen Tyrannei und Freiheit ist nicht zuerst der vaterländische Sieg, sondern, wie Werner Kohlschmidt sagt, »die sittliche Behauptung der Person im reißenden Strom der Geschichte«.
Der Habsburger König Albrecht beruft seine Parteigänger als Landvögte, um durch deren Willkürherrschaft die reichsunmittelbaren Schweizer Kantone Uri, Schwyz und Unterwalden allmählich seiner Hausmacht zu unterwerfen. Angesichts der Verbrechen des Reichsvogts Geßler schließen sich führende Bürger zur Gegenwehr zusammen und schwören auf dem Rütli:
– Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern,
In keiner Not uns trennen und Gefahr.
[…]
Bezähme jeder die gerechte Wut,
Und spare für das Ganze seine Rache,
Denn Raub begeht am allgemeinen Gut,
Wer selbst sich hilft in seiner eignen Sache.
Tell, der unpolitische Einzelgänger, gehört nicht zu den Eidgenossen, denn er glaubt:
Dem Friedlichen gewährt man gern den Frieden. [Und:]
Der Starke ist am mächtigsten allein .
Er weigert sich, den zur Schau gestellten Hut des Landvogts zu grüßen, wird von Geßler zu dem berühmten Apfelschuss vom Kopf seines Sohnes gezwungen und anschließend verhaftet. Den Fesseln entsprungen, kommt er zu der Einsicht, dass der Tyrannenmord unumgänglich ist. Nicht in solidarischer, allenfalls in stellvertretender Handlung für das unterdrückte Volk erschießt Tell den Tyrannen. Vor dem ehrsüchtigen Kaisermörder Parricida rechtfertigt er diesen Schuss aus Notwehr nicht als vaterländische Tat, sondern als sittliche Forderung der Menschlichkeit (im Sinne Kants). 32
7. Zwischen Klassik und Romantik (1794–1811)
Goethes Alterswerk, der zweite Teil des Faust, Wilhelm Meisters Wanderjahre und die späte Lyrik, gehen bereits über den engen Rahmen des formgeschichtlichen Begriffs ›Klassik‹ hinaus. Noch schwerer lassen sich die Werke von Johann Peter Hebel, Jean Paul, Hölderlin und Kleist diesem Stilbegriff unterordnen. Diese Dichter, die, bis auf Jean Paul, zeitlebens im Schatten Goethes und Schillers standen, folgten weder dem klassischen noch dem romantischen Programm, sondern entfalteten unter den verschiedenen Stileinflüssen ihrer Zeit je ganz persönliche Eigenheiten.
JOHANN PETER HEBEL (1760–1826), der mit seinen Alemannischen Gedichten (1803) erstmals mundartlicher Dichtung zu literarischer Geltung verhalf, sammelte seine Kalendergeschichten im Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreundes (1811) und lebt damit als volksnaher Meister epischer Kleinkunst fort. 1Weniger rührselig und etwas weltoffener als Claudius (vgl. Kap. 5b), war auch Hebel ein Idylliker, der erzählend die moralische Besserung seines Nächsten beabsichtigte und dabei wie Claudius auch nach 1789 vorrevolutionär apolitisch dachte.
Nicht zufällig schätzte Hebel den großen Erzähler JEAN PAUL (d. i. Johann Paul Friedrich Richter, 1763–1825), denn auch Jean Paul, den viele Zeitgenossen über Goethe stellten, wurzelte tief in der Empfindsamkeit (vgl. ↑) und hatte eine Vorliebe für merkwürdige Käuze und Sonderlinge, die das Glück im stillen Winkel zu genießen verstehen. Das Schulmeisterlein Wuz, Quintus Fixlein, der Armenadvokat Siebenkäs und Dr. Katzenberger sind solche Jean-Paulschen Romanhelden, die unter dem Einfluss englischer Romane des 18. Jahrhunderts (von Richardson, Fielding und vor allem Sterne) entstanden und dann ihrerseits auf die Erzähler des Realismus (Mörike, Stifter, Keller und Raabe) fortwirkten.
Das Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wuz in Auenthal (1793), Hesperus, oder 45 Hundsposttage (1795), das Leben des Quintus Fixlein (1796), die Blumen-Frucht- und Dornenstükke oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Siebenkäs im Reichsmarktflecken Kuhschnappel (1796–97) und die Flegeljahre (1804–05) sind die bekanntesten Titel Jean Pauls.
Als das »liebste und beste unter seinen Werken« bezeichnet er selbst seinen großen Erziehungsroman Titan (1800–03), an dem er zehn Jahre gearbeitet hat. » Titan sollte heißen Anti-Titan. Jeder Himmelsstürmer findet seine Hölle; wie jeder Berg zuletzt seine Ebene aus seinem Tale macht. Das Buch ist der Streit der Kraft mit der Harmonie«, erläutert Jean Paul. Seine Lektüre setzt allerdings einiges voraus: Lesegeduld und, wenn man nicht dauernd in den Kommentaren blättern will, literatur- und kulturgeschichtliche Kenntnisse der Zeit. Denn Jean Paul spielt auf manches an, das heute vergessen ist. Zudem ist dieser humoristische Erzähler alles andere als ein Systematiker. Die Kritik, die er im Titan an klassischen und romantischen Ideen übt, fließt oft unvermittelt ein und verwirrt nicht selten durch Inkonsequenzen. Mehr noch: nach dem Vorbild des Tristram Shandy (1760) von Laurence Sterne sind launige Einfälle, verschrobene Einschübe, phantastische Abschweifungen, Einmischungen des Erzählers, Gespräche, Briefe, Zitate, kurzum, punktuelle Einzelheiten derart stilbeherrschend, dass der Leser darüber leicht den Faden verliert, zumal die Handlung selbst durch Kindesvertauschung, Intrigen, Doppelgängermotive und Gestaltentausch durch Masken, Wachsfiguren und schauerromantische Apparaturen eine so unwahrscheinliche Verwicklung erfährt, dass ihre Knalleffekte manchen Kriminalroman in den Schatten stellen. 2– Was diesen Roman lesens- und liebenswert macht, sind der Humor, über den sich Jean Paul in seiner Vorschule der Ästhetik (1804, besonders § 31 f.) theoretisch äußert, und die bilderreiche Sprache, die alle Wirklichkeit beseelt, in phantasievolle bewegte Visionen auflöst und dadurch unmittelbar zum Gemüt spricht. 3
Jean Paul, der nur vier Jahre jünger war als Schiller und diesen um zwanzig Jahre überlebte, hinterließ ein umfangreiches Romanwerk, das zwar heute schwer zugänglich ist, wegen seiner nachhaltigen Wirkung aber zu einem wichtigen Glied in der Entwicklung deutscher Erzählkunst wurde. Ganz anders sehen Leben, Werk und Wirkung Hölderlins aus:
FRIEDRICH HÖLDERLIN (1770–1843) fiel nach einer kurzen Schaffenszeit von anderthalb Jahrzehnten in eine geistige Umnachtung, in der er noch fast vierzig Jahre seines Lebens hindämmerte. Weder Schiller, unter dessen Einfluss Hölderlins frühe Reimhymnen entstanden, noch Goethe erkannten den Wert der Dichtungen Hölderlins; und so blieb dieser geniale Dichter das ganze 19. Jahrhundert hindurch unbeachtet, bis Wilhelm Dilthey 4und der George-Kreis Hölderlins Bedeutung entdeckten und dem Leser des 20. Jahrhunderts erschlossen.
In Lauffen am Neckar geboren und in Nürtingen aufgewachsen, studierte Hölderlin gleichzeitig mit Schelling und Hegel Theologie am Tübinger Stift. Da er aber nicht als Theologe leben mochte, nahm er eine durch Schiller vermittelte Hofmeisterstelle 5bei Charlotte von Kalb an und ging mit seinem Zögling für kurze Zeit nach Jena. Schiller bot Hölderlin die Mitarbeit an der Zeitschrift Die Horen an und veröffentlichte dessen Entwurf zu dem Briefroman Hyperion 1794 in der Thalia . Doch Hölderlin entzog sich bald dem Weimarer Einfluss. Er ging als Lehrer nach Frankfurt, wo er in der Familie des Bankiers Gontard die Hausherrin Susette Gontard unter dem Namen »Diotima« schwärmerisch verehrte, bis seine Anwesenheit nach drei Jahren für den Gatten untragbar wurde. Nach zwei weiteren Versuchen als Hauslehrer in der Schweiz und in Frankreich kehrte Hölderlin 1802 krank nach Nürtingen zurück. Im selben Jahr starb Susette, der Hölderlin in seinen Gedichten und in Hyperion oder der Eremit in Griechenland (1797–99) ein großartiges Denkmal gesetzt hat.
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