Wäre der Senator, der als Jugendsünde gewertet wissen wollte, was doch angesichts der Zeit, in der er seine ersten öffentlichen Sporen sich verdient hat, nämlich Ende 1944, eher als Einübung in eine der politischen Karriere förderlichen Tugend gelten kann, in die Tugend, konsequent, d.h. wider besseres Wissen bis zum eigenen Untergang zu handeln – wäre dieser Senator schweigend und in betreten schweigender Stimmung zurückgetreten, dann hätte man, wenn auch mit falscher Hoffnung, vielleicht ein wenig aufatmen können: Gut, einer weniger. Einer von wievielen?
Wir wissen es nicht, und die Umstände des Rücktritts bewiesen auch, daß wir es auch gar nicht so genau zu wissen brauchen. Denn dieser Einzelfall komplettiert nur das Bild. Nicht trotz des Nationalsozialismus hat es einer zu einem öffentlichen Amt gebracht, sondern eben deshalb. Von den Unionsparteien war bekannt, daß sie sozusagen als Überleitungsgesellschaft ehemaligen Nazis die nötige freiheitlich-demokratische Stromlinie verpaßt und manchen damit sogar bis zum Kanzler und Bundespräsidenten gebracht haben. Nach dem Rücktritt des Bremer Senators muß man sich mit der Vorstellung vertraut machen, daß auch die Sozialdemokraten zu jenem bislang von anderen Parteien verkörperten Phänomen rechnet, dem die Soziologie Sockelqualifikation mit Transferleistungen bescheinigen würde. Ehrenmänner die sie sind, bedanken sie sich, indem sie kompromittierten Figuren wie Seifriz (oder dem schon längst wieder vergessenen Präsidenten des Frankfurter Landesarbeitsgerichts Joachim) »eine Chance gegeben haben« für den Umstand, daß der Nationalsozialismus auch willigen Sozialdemokraten eine Chance eingeräumt hatte. Nimmt man die damaligen Äußerungen einiger Sozialdemokraten und Gewerkschaftsfunktionäre ernst – an ihnen lag es nicht, daß diese Chancen nicht genutzt werden konnten.
Als wäre Politik Strafvollzug und ein öffentliches Amt die vom Bewährungshelfer verordnete Resozialisierungsmaßnahme, sprachen der Betroffene und der Bremer Regierungschef Koschnik von »Jugendsünden« und von »verblendeten Menschen, denen man die Chance gegeben habe, nicht abseits zu stehen, sondern neu anzufangen«.
Seifriz ist zurückgetreten mit der Erklärung, er habe sich zu diesem Schritt entschlossen, um die Partei nicht zu schädigen. Doch der Schaden besteht gerade darin, daß er durch sie etwas geworden ist. Jean Améry hat auf die Rechtfertigungsversuche wie auf die wortreiche Reue der ehemaligen Schreibtischtäter mit einem kategorischen: »Sie sollen der Mund halten« reagiert; nur wenn diese schwiegen, seien die Toten, die Würde der Opfer einigermaßen sicher.
Die hier von verzeihlichen Jugendsünden redeten, halten ansonsten schon die Tatsache, daß ein Schüler, der auf eine kommunistische Zeitung abboniert ist, schon für gravierend genug, daß sie ihn deshalb nicht einmal Friedhofsgärtner werden lassen wollen. Seifriz hat seine Nazi-Artikel in einem Alter geschrieben, in dem man heute nicht nur den Führerschein machen, sondern als Polizist anderen Menschen den »finalen Rettungsschuß« verpassen darf. Und neidvoll werden sicher viele Eltern und Großeltern den gestammelten Unsinn ihrer eigenen 18jährigen mit dem elaborierten, flotten Henkersdeutsch jenes aufstrebenden jungen Mannes von damals vergleichen.
Wie Weimar und Hitler sich als Kreuzung in der deutschen Politik nach 1945 fortzeugen, so auch in der deutschen Presse. Als ein Beispiel unter vielen mag hier der meinungsstiftende Kommentar eines stellvertretenden Chefredakteurs gelten, dessen Ausführungen »Feiges Nachgeben« überschrieben sind. 7Für die Tatsache, daß ein junger angehender Journalist mit widerlichen Veröffentlichungen reüssieren konnte, hat am ehesten Verständnis, wer selbst mit zusammengebissenen Zähnen als stellvertretender Chefredakteur seinen Job verrichtet und unnachgiebig ausharrt. Als »dumme Hetzartikel«, als hämischer Streich eines Hitlerjungen erscheint, was die Ermordung von Millionen Menschen mit zu verantworten hat. Im Kommentar zum Fall Seifriz ist die Rede vom »Sündenfall einer Pimpfengeneration«, als sei der Nationalsozialismus der Einbruch des Unglaubens in die Zivilisation gewesen, aus welcher er in Wahrheit doch hervorgegangen ist.
Die noch naiven ersten Menschen wurden für ihren Sündenfall zunächst einmal aus dem Paradies verjagt, das unterschlägt jene als »Vergangenheitsbewältigung« so beliebte exkulpierende Konstruktion, die im Nationalsozialismus Verbrechen und Strafe zugleich sieht. Für Adam und Eva hörte das Honiglecken auf; dem Verbrechen folgte die Sühne, dem Sündenfall die Vertreibung; im Schweiße ihres Angesichts mußten sie ihr Leben fristen ohne Hoffnung auf ein öffentliches Amt jenseits von Eden.
Ob man versteht, daß ein Jugendlicher in Nazideutschland mit großer Wahrscheinlichkeit eher ein Nazi als keiner war, ob man diese Wahrscheinlichkeit in Rechnung stellt oder nicht: Seifriz hat, wie tausende seiner später ebenfalls aufgestiegenen Zeitgenossen, direkt von der Schulbank weg als Schreibtischtäter seinen Beitrag zum Völkermord geleistet.
Weil alles an ihm so verständlich und er, von Ausnahmen menschlicher Schwäche abgesehen, anständig geblieben sei, hält heute ein stellvertretender Chefredakteur die frühen Fleißarbeiten von Seifriz für »verzeihlich«. Für verzeihliche Flecken auf dem Bildnis des Senators als junger Mann. Wie Himmler das Erbrechen seiner Schergen bei den Massenerschießungen.
Der Sozialdemokrat Seifriz war das Ziel eines kleinlichen Racheakts; in diesem Gewand kommt die Gerechtigkeit unter die Deutschen. So beschämend der Gedanke auch ist, daß die ehemaligen Nazis in der Bundesrepublik nur durch das Schattenboxen der Parteien ans Licht gebracht werden nach der Parole »Aug um Aug, Nazi um Nazi«, so tröstet er doch ein klein wenig über ein ausgelassenes Kapitel deutscher Geschichte hinweg. In den zänkischen Querelen würde sich ein winziges Quantum unterbliebener Rache erfüllen.
Doch vorerst steht alles zum Besten. Kein jüngstes Gericht kündigt sich an, kein Racheengel, nicht einmal eine zweite Klarsfeld im Bundespräsidialamt. Was heraufzieht ist die Aura einer überparteilichen Altherrenrunde, ein zeitgenössisches remake der »Feuerzangenbowle«: Bei einer Cocktailparty geraten ältere Herren und Damen in nostalgisches Schwärmen und lächeln jovial über ihre Jugendsünden – langweilig, einfallslos, eine Geschichte ist wie die andere –, bis plötzlich einer den Vorschlag macht, Wiedergutmachung zu beantragen.
1979
Schuld– Es gibt keine Zuschauer mehr. Manche Theater äffen den Ernst dieses Befundes nach und fordern das Publikum – Gottseidank noch meist vergeblich – zum Mitspielen auf. Dann gibt es nur noch Kreative, und die Kritik verstummt.
Reale gesellschaftliche Gestalt gewann die Auslöschung dieser Differenz erstmals im Nationalsozialismus. Die Effizienz totaler Herrschaft bestand darin, tendenziell jeden ins Konzentrationslager zu bringen. Unschuldig war man nur auf Zeit, solange man noch draußen war. (Umgekehrt gingen die Alliierten, wie Hannah Arendt in »Organisierte Schuld« schreibt, zu Recht davon aus, daß jeder, dem die Nazis nichts angetan hatten, schuldig sei). Wußten politische Häftlinge noch, warum man sie eingesperrt hatte, so begriffen doch diejenigen, die sich für im Sinne des Systems unschuldig hielten, ihre Verhaftung und Deportation überhaupt nicht. Aber genau an diesem Punkt begann erst die eigentliche Domäne nationalsozialistischer Herrschaft.
Wie etwa gegenwärtig bei den rechtsstiftenden Versuchen der Polizei, die das Demonstrationsrecht zu novellieren forciert, indem sie durch Massenverhaftungen den Tatbestand der Teilnahme schafft, so galt auch bei den Nazis als tatverdächtig, nicht wer gegen die herrschende Ordnung verstoßen, sondern wer nicht positiv Partei für sie ergriffen hatte.
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