Jörg Witte - Genese des Zahl- und Zeitbegriffs aus der Erinnerung

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Genese des Zahl- und Zeitbegriffs aus der Erinnerung: краткое содержание, описание и аннотация

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Was offenbart die historische Entwicklung der Mathematik über die Menschen, die sie betreiben oder anwenden? Was verrät sie über uns selbst und über die Gesellschaft, in der wir leben?
Keine Wissenschaft spielt eine so dominante Rolle in unserer heutigen Kultur wie die Mathematik: Ohne sie wären die atemberaubenden Fortschritte in Naturwissenschaft und Technik nicht möglich gewesen, denn das Prinzip der (mathematischen) Vorhersagbarkeit ist Grundlage jeder wissenschaftlichen Theorie. Dieser Vorhersagbarkeit liegt auch eine zeitliche Dimension zugrunde, sie sagt eine Bewegung voraus: die Einheiten, in denen diese gemessen wird, sind etwa Zeit, Strecke, Geschwindigkeit, Beschleunigung oder Kraft.
Der Mathematiker Jörg Witte zeigt, was unser naturwissenschaftliches Weltbild über unser Selbstverständnis aussagt und wie sich dieses historisch entwickelt hat. Auf anschauliche Weise und mit einem niedrigschwelligen Zugang legt der Autor dar, wie sich die kulturellen Voraussetzungen im Wandel der Zeit verändert haben und welche Bedeutung dabei das Subjektverständnis zur eigenen Stellung in der Welt spielt.

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Jörg Witte

Genese des

Zahl- und Zeitbegriffs

aus der Erinnerung

Von archaischen Kulturen bis zur Renaissance

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche - фото 1

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.d-nb.deabrufbar.

© Wallstein Verlag, Göttingen 2020

www.wallstein-verlag.de

Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf.

Das Foto zeigt die Vorder- und Rückseite des Ischango-Knochens, der 1950 im damaligen Belgisch-Kongo entdeckt wurde und sich im Museum für Naturwissenschaften in Brüssel befindet.

ISBN (Print) 978-3-8353-3841-8

ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4568-3

ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-4569-0

Inhalt

Vorwort

Einleitung

1 Zeit und Zahl in der Erinnerungskultur der Neuzeit

Prolog

Der Mensch der Neuzeit

Episodisches Erinnern während der Renaissance

Perspektive

Lineare Zeit

Ordinalzahlen

Reelle Zahlen

Fazit

2 Merken und Erinnern, Zählen und Rechnen

Prolog

Merkzeichen

Rekursives Erinnern

Zählen

Rechnen

Zahlsysteme und Merkzeichen

Fazit

3 Phänomene des Erinnerns und Wahrnehmens

Prolog

Episodisches und semantisches Erinnern

Vertrautheit und Wiedererkennen

Prozedurales Gedächtnis

Episodisches Erinnern und neuzeitliche Wissenschaft

Wahrnehmen und Beobachten

Der Gegenwartsmoment

Phänomene des Bewusstseins und Naturwissenschaft

Fazit

4 Zahl- und Zeitbegriffe

Prolog

Was ist ein Begriff – oder wie wir begreifen

Mythische Bilder

Vorbegriffliche Konzepte

Die Kardinal- und Ordinalzahlen

Begriffe mit Merkmalen der Bewegung

Zyklische und lineare Zeit

Zahl- und Zeittypen in einer Erinnerungskultur

Zahl, Zeit und Erinnerung bei Kant und Helmholtz

Fazit

5 Zeit und Zahl in der antiken griechischen Erinnerungskultur

Prolog

Antike semantische Erinnerungskultur

Zyklische Zeit bei Platon

Der Zahlbegriff bei Euklid

Antike Mythen

Fazit

6 Eine Entwicklungslogik

Prolog

Vertraut-Sein

Semantisches Erinnern

Episodisches Erinnern

Zusammenfassung

Glossar

Literaturverzeichnis

Anmerkungen

Vorwort

Mittlerweile blicke ich auf jahrzehntelange Erfahrungen in der Hochschullehre der Mathematik zurück. Immer wieder erlebe ich, dass die abstrakten, mathematischen Begriffe vielen Studierenden erhebliche Schwierigkeiten bereiten. Mitunter sehen sie als Alternative nur das sture Einpauken von Rechenregeln, was jedoch nicht nur an einer Hochschule unbefriedigend ist. Die modernen mathematischen Begriffe sind historisch erst sehr spät, nach einer langen Entwicklungsgeschichte, entstanden. Die Babylonier kannten noch keinen Zahlbegriff, entwickelten aber bereits elaborierte Rechentechniken. Wie also ist der Zahlbegriff historisch entstanden?

Ein zweiter Entwicklungsstrang zu diesem Buch entstand, als ich mich als junger Mann intensiv mit einer These des amerikanischen Linguisten Benjamin Lee Whorf auseinandersetzte. Er war von Haus aus Chemiker und arbeitete in einer Versicherung, wo er die Ursache von Bränden ermittelte. Eines Tages brach ein Feuer aus, als Arbeiter während der Reinigung eines leeren Tanks rauchten. Sie hatten sich unter dem Begriff »leerer Tank« die Abwesenheit von entzündlichen Stoffen vorgestellt. Whorf begann sich neben seiner Versicherungstätigkeit mit dem Einfluss der Sprache auf das Denken auseinanderzusetzen und erforschte zu diesem Zweck die Sprache der Hopi-Indianer. Sie unterscheidet sich erheblich vom Englischen sowie von allen anderen indogermanischen Sprachen. Ihre Grammatik kennt keine Zeiten wie Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Whorf schloss daraus, dass ein Tag nicht vergehe, der folgende Tag entsprechend kein neuer sei, sondern derselbe Tag. Aus gewisser Sicht schien mir die Schlussfolgerung plausibel, schließlich gibt es keine wahrnehmbare Eigenschaft eines Tages, die auf ein Aufeinanderfolgen der Tage, eine lineare Reihenfolge hinweisen würde. Ich fragte mich, wie wir Tage nacheinander in einer linearen, zeitlichen Reihenfolge anordnen. Die Schlussfolgerung Whorfs wurde kontrovers diskutiert und gilt mittlerweile als zweifelhaft; die Frage jedoch, wie wir die Tage unterscheiden und linear in einer Reihenfolge anordnen, beschäftigte mich weiterhin.

Die beiden Fragen hängen zusammen. Durch einen bestimmten Zahlbegriff kann ich eine lineare Reihenfolge von Tagen (oder Monaten, Jahren) denken und durch Ordinalzahlen ausdrücken: erster Tag, zweiter Tag, dritter Tag usw. … Ich kann dann eine Zeitbestimmung oder zeitliche Beziehungen verstehen. Wie erfahre ich aber eine lineare Reihenfolge? An den gestrigen Tag kann ich mich wahrscheinlich erinnern. So erfahre ich, dass der heutige Tag dem gestrigen Tag nachfolgt. Wie erfahre ich aber, dass der gestrige Tag dem vorgestrigen Tag nachfolgte? Wenn ich mich gestern an vorgestern erinnerte, dann erfahre ich das heute nur, wenn ich mich heute an die gestrige Erinnerung erinnere. Enthält der Gegenstand einer Erinnerung wiederum eine Erinnerung, dann nennen wir sie eine rekursive Erinnerung . Eine zeitliche Reihenfolge kann ich durch rekursives Erinnern erfahren, aber auch eine Quantität z. B. von Tagen.

Von den rekursiven Erinnerungen nahm historisch die Genese des Zahl- und Zeitbegriffs ihren Ausgang. Durch rekursives Erinnern kann ich dasjenige konkret erfahren, was ich mit einem abstrakten Zahlbegriff denke. Damit eröffnen sich neue Perspektiven auf die Kulturgeschichte des Zahl- und Zeitbegriffs, die Erkenntnistheorie sowie das Lernen und Lehren der Mathematik.

Göttingen, den 19.10.2019

Danksagung: Dem Wallstein Verlag danke ich für die Aufnahme des Buches in sein Programm. Frau Ursula Kömen und andere Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Verlages haben mit viel Engagement und Hingabe das Manuskript zur Druckreife gebracht.

Einleitung

In unserer gegenwärtigen Kultur spielt die Mathematik eine dominante und prägende Rolle. Seit der kopernikanischen Wende ist keine Naturwissenschaft ohne Mathematik denkbar. Nach Kant ist in jeder Naturlehre nur so viel Wissenschaft enthalten, wie in ihr Mathematik enthalten ist (Kant I., 1786). Ihr sind die atemberaubenden Fortschritte in Naturwissenschaft und Technik maßgeblich geschuldet. Auch in den Sozial- und Humanwissenschaften wird sie zunehmend angewendet. Ein überzeugendes Merkmal für den Wahrheitsgehalt einer wissenschaftlichen Theorie oder zumindest für ihre Zuverlässigkeit ist, dass auf ihrer Grundlage zukünftige Ereignisse vorausberechnet werden können – z. B. wenn Astronomen Ereignisse wie eine Sonnenfinsternis voraussagen. Die Vorhersagbarkeit ist eine notwendige Voraussetzung, Naturgesetze technisch zu nutzen. Vorhersagen lässt sich nur eine zeitliche Änderung, wie sie durch eine Bewegung verursacht wird. Ein Ingenieur veranlasst, steuert und kontrolliert mit seinen Maschinen Bewegungsvorgänge, ein Wissenschaftler veranlasst sie mit einer Experimentiervorrichtung. Der Wissenschaftler will Zusammenhänge der Bewegungen erkennen. Eine solche Erkenntnis nennt er ein Naturgesetz. Ein Naturgesetz ist eine Aussage über eine mathematische Beziehung. Eigenschaften einer Bewegung wie Zeit, zurückgelegter Weg, Geschwindigkeit, Beschleunigung, Kraft etc. stehen in einem Zusammenhang, den der Wissenschaftler durch Experimente erkennen will.

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