Stig Ericson
Der rote Sturm
Aus den Erinnerungen von
Jenny M. Lind, Nebraska 1890
Aus dem Schwedischen
von Regine Elsässer
Saga
Als ich zehn Jahre alt war, schloß mein Vater mich eines Morgens in den Gemüsekeller ein.
Mutter versuchte, ihn zu hindern, aber er stieß sie beiseite, und als er die Tür zudrückte und den Riegel vorschob, hörte ich ihn schreien:
„Kümmere dich um deine Angelegenheiten, Frau. Sonst...“
Ich weiß nicht mehr, was ich angestellt hatte, aber es muß auf jeden Fall irgendwann im Spätherbst gewesen sein, denn die Wühlnattern hatten sich dorthin zurückgezogen, und es kroch und krabbelte überall um mich herum.
Ich stand barfuß in der Dunkelheit und schrie wie eine Wahnsinnige. Wenn ich zwischen den Schreien Luft holte, hörte ich, wie die Schlangen sich bewegten, nicht nur auf dem Boden, sondern auch auf den Regalen und den morschen Brettern unter der Decke. Ich zog mir das Kleid am Hals ganz, ganz fest zu, damit sie nicht an meinen Rücken gelangen konnten, meinen so empfindlichen Rücken, den ich schon damals, so gut es ging, zu schützen versuchte.
Als ich dann wieder herausgelassen wurde, stand die Sonne groß und rot über den Hügeln hinter dem Fluß, das Licht stach wie mit Messern in den Augen, und ich sprach mehrere Tage mit niemandem ein Wort...
So ist es, wenn ich über meine Kindheit und Jugend in der Siedlergemeinde Bluewater erzählen möchte; ich komme auf Ereignisse zu sprechen, die mit Vater zu tun haben; starke, oft schreckliche Erlebnisse, die mich immer noch zu unüberlegtem Handeln veranlassen können.
Er bestimmte mein ganzes Dasein. Meistens haßte ich ihn. Aber gleichzeitig wurde ich von ihm angezogen; es kam häufig vor, daß ich seine Nähe suchte, so wie Motten das Licht.
Mein Bruder Daniel sagte manchmal, ich sei wie mein Vater, und da wollte ich ihn dann immer kratzen und schlagen...
Was ich erzähle, wird nicht nur ein Bericht über den ‚roten Sturm’, die große Indianerfurcht im nordwestlichen Nebraska im Herbst 1890, oder darüber, was die Angst der Menschen, ihre Unwissenheit und ihre Vorurteile vermögen; vieles von dem, was ich erzähle, hat mit meiner Beziehung zu meinem Vater zu tun.
Vielleicht hilft mir das Schreiben, ihn und mich besser zu verstehen.
Mein Vater glich keinem anderen Menschen und wollte es vermutlich auch nicht.
Er hatte die kaputtesten Kleider, den beißendsten Geruch an sich, den wildesten Bart und die schärfste Zunge in der ganzen Gegend.
Jeder, der ihn zwischen den Häusern von Rushville, Chadron, Gordon oder einer der anderen neuerbauten kleinen Ortschaften entlang der Eisenbahn trotten sah, reagierte irgendwie auf ihn.
Die Kinder streckten ihm die Zunge heraus und ahmten seinen merkwürdigen, etwas holprigen Gang nach. Die Frauen traten beiseite und wandten sich ab; er war weit und breit bekannt für seine frechen Grimassen und für seine Verachtung für alles, was Weiberröcke trug. Die Männer schoben sich die Mütze in den Nacken und glotzten ihm nach, entweder mit Wut oder mit widerwilligem Respekt.
Man nannte ihn Onkel Charles.
Das hatte nichts mit seinem Alter zu tun; es gab in der Gegend Männer, die sehr viel älter waren. Aber nach vielen Jahren im Einwandererland war er so etwas wie eine Führerfigur, ein Ratgeber geworden.
An ihn wandte man sich, wenn die Ernte mißlang, wenn wieder Gerüchte umgingen, daß die Indianer oben im Reservat Kriegstänze tanzten, oder wenn die Übergriffe der Viehzüchterbosse gegen die Siedler zu schlimm wurden.
Die Bosse wollten die früher freien Steppen für sich haben. Die Weiden machten sie reich, oder noch reicher. Die meisten hatten viele tausend Tiere. Deshalb versuchten sie auf jede nur mögliche Art, die Neuankömmlinge zu vertreiben. Häuser brannten aus mysteriösen Gründen. Eingewanderte Farmer wurden tot mit Schußwunden im Rücken gefunden. Unbekannte Reiter galoppierten im Schutz der Dunkelheit nach Süden...
Die Gegend um Bluewater war weit weg vom nächsten Sheriff.
Vater behauptete, der einzig gebildete Mensch in der ganzen Gegend zu sein. Das würde man nicht glauben, wenn man ihn sah oder in seinem gebrochenenen Englisch schimpfen und fluchen hörte, aber es kann schon sein, daß etwas dran war an der Behauptung.
Bis zu den schrecklichen Ereignissen oben im Pine-Ridge-Reservat in der Woche nach Weihnachten im Jahr 1890 war er davon überzeugt, daß er und sonst niemand wußte, wie Bluewater in Zukunft aussehen würde.
Es ging um den Anbau. Ums Säen und Pflanzen, Wässern und Beschneiden. Darum, die richtigen Pflanzen in die richtige Erde zu setzen.
„Da, wo wilde Sonnenblumen wachsen, kann man auch Mais säen...“
Das habe ich ihn unendlich oft sagen hören, sowohl zu Neuankömmlingen als auch zu Nachbarn, die Ratschläge haben wollten. Und er hatte meistens recht. Ich wuchs in einem Land auf, das sich wandelte; in meiner Kindheit wurden viele tausend Acres bis dahin unberührtes Prärieland unter den Pflug genommen.
Mein Vater war ein Farmer, ich möchte sogar fast behaupten ein Farmer-Genie. Es kam vor, daß Leute aus Lincoln angereist kamen, um seinen Obstgarten anzuschauen. Er hatte die Fähigkeit, die Kraft des Bodens zu bestimmen, indem er an der Erde roch oder sie zwischen seinen kurzen, immer schmutzigen, aber dennoch merkwürdig empfindsamen Fingern zerkrümelte.
Er liebte den Mais, den Obstgarten und das Gemüse und haßte viele Menschen.
Es war fast nicht möglich, ihn zu verstehen.
Er hieß Charles J. Lind und stammte aus Schweden.
Viele Gemeinden haben ihre besonders gefährlichen und unheimlichen Orte, wo es angeblich in bestimmten Nächten spukt, wo die Eule bei Vollmond dreimal hintereinander ruft.
Diese Orte haben oft etwas mit Gewalt und Blut und Tod zu tun.
Auch die kleine Siedlergemeinde am Bluewater kam zu einem solchen Ort. Er lag am Fluß, drei oder vier Meilen nach Osten.
Da stand eine riesige, verwachsene Baumwollpappel, deren knorrige Zweige und rissige Rinde die Spuren von vielen Jahrzehnten von Stürmen und Grasbränden trugen. Der Baum wuchs so nah am Fluß, daß die klauenähnlichen Wurzeln bis ins Wasser reichten.
Eines Tages hing da ein Mensch, ein junger Indianer.
Es geschah an einem klaren, sonnigen Herbsttag, ein paar Tage, bevor ich zehn Jahre alt wurde. Ich verstand zuerst gar nicht, was geschehen war.
Ich sah, wie Menschen mit gesenktem Kopf vorüberritten, und als eine der Nachbarsfrauen in die Küche kam, begrüßte sie mich nicht, und Mutter schickte mich hinaus, ehe sie miteinander sprachen. Es lag etwas in der Luft, etwas Schreckliches und Beängstigendes, und hinterher war Mutter ganz anders als sonst. Sie hatte Angst im Gesicht, obwohl Vater nicht zu Hause war. Ich konnte keinen Augenkontakt mit ihr bekommen.
Und ich fragte mich natürlich, was wohl passiert war.
„Laß mich in Ruhe“, zischte sie, wenn ich sie fragte.
„Aber Mutter, Liebe...“
Sie schlug nach mir.
„Ach Kind. Häng mir nicht am Rockzipfel. Raus.“
Mutter kam aus Deutschland und hatte die neue Sprache nicht richtig gelernt. Sie verwendete oft deutsche Wörter.
Raus bedeutete, daß ich verschwinden sollte, daß sie mich nicht sehen wollte...
Irgendwie bekam ich dann doch heraus, daß man an diesem sehr sonnigen Morgen in der Nähe von Bluewater einen Menschen getötet hatte, daß man jemandem einen Strick um den Hals gebunden hatte und ihn an einem Baum hochgezogen hatte, so daß er erdrosselt wurde.
Wenn es niemand sah, band ich mir das Brunnenseil um den Hals und versuchte, mir vorzustellen, wie es sich anfühlte, erhängt zu werden.
Es ging nicht.
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