Stig Ericson
Kleiner Wolf und der Schatten
Aus dem Schwedischen von
Mariane Vittinghoff
Saga
Die Sonne stand leuchtend über dem Hang.
In einer langen, traurigen Reihe bewegten sich Menschen und Tiere gen Osten, weg von den Wäldern unterhalb der Hohen Berge.
Es war die Zeit des neuen Grases, die Zeit im Jahr, die sie den Monat-in-dem-die-Büffelkälber-gelb-sind nannten.
Aber jetzt würden sie nie mehr gelbe Kälber im neuen Gras weiden sehen. Die Büffel waren aus den Wäldern und von den Hängen verschwunden.
Der Büffel bedeutete fast alles für diese Menschen, die nun dorthin unterwegs waren, ins Unbekannte, über das man am liebsten nicht sprach.
Er hatte ihnen Fleisch gegeben.
Er hatte ihnen Felle und Knochen gegeben.
Er hatte ihnen Wärme und Kraft gegeben.
Er war ihr bester Helfer gewesen.
Ohne den Büffel konnten sie nicht leben.
Nun waren sie über den Hang unterwegs ... Kleiner Wolf ging neben seinem liebsten Pony.
Er war genauso müde wie alle anderen, genauso mager und genauso still.
Und er vermißte seinen Vater.
Der Vater von Kleiner Wolf hieß Zwei Federn und war bekannt als großer Jäger. Er war einer von denen, die vorangeritten waren, um mit dem Führer der Weißen zu sprechen.
Vor dem Treffen mit den Weißen hatten sich Häuptling Schwarzer Adler und sieben auserwählte Jäger zu einer heiligen Zeremonie versammelt. Diesmal warteten weder Krieg noch Streit auf sie, nur etwas Neues und Unbekanntes.
Nach der Zeremonie waren sie auf ihre mageren Pferde gestiegen. Sie trugen Bitterkeit im Herzen. Die Weißen waren schuld, daß sie kein richtiges Leben mehr führen konnten.
Die Weißen waren schuld, daß so viele Kinder und Alte in letzter Zeit an Hunger gestorben waren. Die Weißen waren schuld, daß es jetzt keine Büffel mehr gab.
Denn sie hatten mehr Büffel getötet, als irgend jemand zählen konnte.
Die jungen Jäger hatten die Faust erhoben und von Kampf gesprochen, aber die Älteren hatten den Kopf geschüttelt. „Wir sind wie dürres Laub“, hatten sie gesagt. „Die Weißen sind zu viele, und ihre Waffen sind wie der Sturm. Wir haben nichts zu essen. Unsere Feuer spenden uns keine Wärme mehr. Es hat keinen Sinn mehr zu kämpfen.“
Und dann hatten sich der Häuptling und die sieben Jäger auf den Weg gemacht um mit den Weißen zu verhandeln.
Kleiner Wolf verstand nicht, worüber sein Vater und die anderen mit den Weißen reden würden.
Er wußte nur, daß alles um ihn herum sich verändern würde, daß sie auf dem Weg dorthin waren, zu einem Ort, der Reservat genannt wurde, und daß sie wohl für immer dort bleiben müßten.
Dies konnte er aber nicht verstehen.
Für immer ...
Kleiner Wolf sollte gerade seinen neunten Sommer erleben.
Kleiner Wolf und die weißen Soldaten
Vor nicht sehr langer Zeit hatte Kleiner Wolf genausoviel Angst vor den Weißen wie vor der Großen Erdschlange und dem Volk-unter-dem-Wasser gehabt.
Und am gefährlichsten waren die Blauröcke, die Krieger der Weißen. Sie töteten nicht nur Büffel. Sie töteten auch Menschen, ja sogar Frauen und kleine Kinder.
Kleiner Wolf hatte schreckliche Geschichten über die Grausamkeit der Blauröcke gehört. Aber jetzt hatte er nicht mehr so viel Angst – wenigstens nicht auf dieselbe Art.
Er wußte, daß sein Herz stark war. Einmal hatte er sich getraut, die Hand auf einen Blaurock zu legen. Und das ist das Mutigste, was man machen kann: einen Gegner zu berühren, ohne ihn vorher getötet zu haben.
Kleiner Wolf war weit weg vom Lager gewesen, als er die Blauröcke erblickte, und er war allein gewesen. Einer der Blauröcke hatte sich auf einen Stein gesetzt, ein Stück von den anderen entfernt. Er hatte eine Blume in der Hand gehalten. Eine gelbe Blume.
Kleiner Wolf war immer näher an ihn herangeschlichen, bis er den säuerlichen Geruch der blauen Kleider wittern konnte.
Vorsichtig hatte er die Hand ausgestreckt ... Gerade als er den Stoff zwischen seinen Fingern spürte, hatte ihn der Blaurock gepackt. Kleiner Wolf hatte versucht, sich zu befreien. Er hatte gezappelt wie ein Fisch, den man aus dem Wasser gezogen hat.
Er war sich sicher, daß er sterben und ins Land der Schatten kommen würde.
Aber der Blaurock hatte nur über ihn gelacht. Weiße Zähne hatten in dem bärtigen Gesicht aufgeblitzt. Dann hatte er seinen festen Griff um das Handgelenk von Kleiner Wolf gelockert. Kleiner Wolf war flink wie ein Wiesel in das Gestrüpp untergetaucht, und dann war er schneller gelaufen als jemals zuvor in seinem Leben ...
Als er ins Lager zurückgekommen war, hatte er erzählt, daß er Blauröcke gesehen hatte.
Aber daß er einen von ihnen mit der Hand berührt hatte, das hatte er nur seinem Freund Fuchsohr erzählt, der einst die Hand auf einen Richtigen Bären, einen Grizzly, gelegt hatte.
In Gedanken hatte Kleiner Wolf immer wieder die Begegnung mit dem Blaurock erlebt.
Auch jetzt, als er über den Hang neben seinem müden Pony herlief. Er konnte das Lächeln des Blaurocks nicht vergessen, und das verunsicherte ihn.
Zuvor hatte er die Weißen nur gehaßt.
Nun wußte er nicht, was er von ihnen halten sollte. Er sehnte sich nach seinem Vater.
Nach sieben Nachtlagern kamen sie an einen Bach. Das Wasser war so klar, daß man die runden Steine auf dem Boden sehen konnte, und im Gras am Ufer waren frische Spuren von Hirschen und Antilopen. Hier beschlossen sie zu bleiben, um Kräfte zu sammeln.
Früh genug würden sie dorthin kommen.
Sie bemalten ihre Gesichter mit einer heiligen roten Farbe und baten die Sonne und den Großen Geist um Schutz.
Danach stellten die Frauen die Zelte auf und machten alles im neuen Lager zurecht, während die Männer wie immer auf die Jagd gingen.
Der langgestreckte Hang hinter dem Bach war mit dunklem, saftigem Gras bedeckt.
Hier konnten die erschöpften Pferde grasen und wieder zu Kräften kommen.
Sie gaben dem Ort den Namen Fettes Gras.
Obwohl der Kältemacher, der Winter, zu seinem schneebedeckten Land hoch oben im Norden zurückgekehrt war, waren die Nächte weiterhin sehr kalt.
Die meisten saßen in ihren Zelten am Feuer.
Sie schwiegen und dachten daran, wie es wohl sein würde, wenn sie dorthin kämen.
Manchmal redeten sie über die Blauröcke.
Aber sie waren nicht mehr auf der Hut vor ihnen, wenigstens nicht so wie früher.
„Warum sollten sie zu uns kommen?“ fragten sie sich. „Wir sind doch auf dem Weg zu ihnen, weg von dem, was einmal unsere Jagdgründe waren.“
Aber am liebsten lauschten sie Geschichten aus alten Zeiten, als sie noch ein starkes, glückliches Volk gewesen waren.
Eines Abends, als Kleiner Wolf zusammen mit seinem Freund Fuchsohr im Zelt seines Onkels saß, kam ein alter Jäger zu Besuch.
Er hieß Schreiende Eule und trug diesen Namen mit Stolz. In der Nacht vor seiner ersten Büffeljagd hatte er die Eule dreimal schreien hören, und die Jagd war sehr erfolgreich gewesen.
Aber das war lange her. Der Rücken von Schreiende Eule war vom Alter gekrümmt.
Heiße Sommer und strenge Winter hatten Spuren in seinem Gesicht hinterlassen. Sein langes Haar hatte die gleiche Farbe wie das Gras nach der Schneeschmelze. Aber seine Augen waren scharf und klar, und er war ein guter Geschichtenerzähler.
Schreiende Eule wurde der Ehrenplatz links neben dem Onkel angeboten. Sie aßen und rauchten dann eine Pfeife, die einen Kopf aus schwarzem Stein hatte. Dann baten alle Schreiende Eule, vom Leben in den alten Zeiten zu erzählen.
„Hmmm“, murmelte Schreiende Eule und schloß die Augen.
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