Stig Ericson
Aus den Erinnerungen von
Jenny M. Lind, Nebraska 1890
Aus dem Schwedischen
von Regine Elsässer
Saga
Sturm über Bluewater
Übersezt von Regine Elsässer
Titel der Originalausgabe: Jenny från Bluewater
Originalsprache: Schwedischen
Coverbild/Illustration: Shutterstock
Copyright © 1990, 2021 Stig Ericson und SAGA Egmont
Alle Rechte vorbehalten
ISBN: 9788726921724
1. E-Book-Ausgabe
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.
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Saga Egmont - ein Teil von Egmont, www.egmont.com
Sturm über Bluewater
Gedungene Cowboys mit lose sitzenden Halftern und schnellen Pistolen unternahmen alles, um die Siedler zu verjagen. Höfe wurden angezündet. Schüsse hallten durch die Nacht, Leute wurden tot aufgefunden. Zeugen wurden gekauft ‒ oder zum Schweigen gebracht.
Ich weiß nicht, ob ich nur Angst hatte vor meinem Vater oder ob ich ihn wirklich haßte. Bis zu dem Sommer, in dem ich vierzehn Jahre alt wurde, hatte ich ihn meistens als eine Schreckfigur erlebt. Meine Gefühle für ihn umfaßten alles außer Gleichgültigkeit ‒ und Liebe.
Aber trotz allem kam es manchmal vor, daß ich ihn bewunderte, daß ich stolz darauf war, seine Tochter zu sein.
Meine Gedanken kreisten ständig um Vater.
Er beherrschte meine ganze Kindheit und Jugend.
Mein Vater war eine starke Persönlichkeit, im Guten wie im Schlechten, eine Führergestalt. Und trotz seines Eigensinns, trotz aller seiner kindischen Einfälle und gewalttätigen Ausbrüche wurde er von den Siedlern in der ganzen Gegend um Bluewater respektiert. Er muß so ungefähr 25 Jahre alt gewesen sein, als er seine ersten 160 Ar auf dem Plateau westlich des Flusses absteckte, aber es hat nicht lange gedauert, bis man ihn „Onkel“ Charles nannte. Es gab in der Gegend mehrere Siedler, die Charles hießen, aber mein Vater hatte den wildesten Bart und den schärfsten Blick. Er war auch der erste, der den Spaten in die schwarze Erde zwischen dem Fluß und den Sandhügeln stieß.
Ich sehe es förmlich vor mir, wie er gebeugt zwischen den wilden Sonnenblumen hockt. Die Hosen sind so kaputt, daß die Knie herausschauen. Er zerkrümelt die schwere Erde zwischen seinen groben und doch merkwürdig gefühlvollen Fingern und brummelt etwas in sehr gebrochenem Englisch oder vielleicht auch auf schwedisch. „Wo die Sonnenblumen so hoch wachsen, da muß man auch Mais anbauen können.“
Der erste wirkliche Bauer. Der dickköpfige Schwede. Der Rücksichtslose. Derjenige, zu dem man zuerst ging, wenn es zu trocken war, wenn die schneidenden Winde über das Plateau fegten oder wenn die Viehkönige, die Ranchbesitzer, den Siedlern mit Mord und Totschlag drohten, weil sie Stacheldraht um ihre neuen Besitztümer zogen.
Mein Vater. Mr. Charles J. Lind from Sweden.
Onkel Charles.
Einmal schlug er mich fast tot.
Es war im Spätsommer, die grünen Äpfel wurden reif, ich war vielleicht vier, fünf Jahre alt. Die Äpfel goren in meinem Bauch, es stach wie mit Messern, und ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen. Ich weinte und jammerte, und da kam Vater hochgerannt und fing an zu schlagen . . .
Kindergeschrei war das Schlimmste für ihn. Es war Sache der Frau, die Kinder ruhigzuhalten.
Er schlug immer weiter. Mutter versuchte, ihn davon abzuhalten. „Ach Charles . . .“
Meine Mutter war Deutsche. Sie war einige Jahre nach Vater mit einem ihrer Brüder nach Bluewater gekommen, aber der Bruder starb durch einen Schlangenbiß, und dann kam es, wie es kommen mußte: Sie traf den Eigenbrötler aus Schweden und heiratete ihn. Es war keine Liebe. Es war noch nicht einmal Zugeneigtheit oder Sympathie. Es war eine Möglichkeit zu überleben. Was sollte eine alleinstehende Frau denn sonst tun in dieser primitiven Gesellschaft, wo man entweder Verwandte haben mußte, übermenschliche Kräfte oder Geld, wenn man nicht untergehen wollte, wenn der erste Schnee fiel?
Und vielleicht wusch Vater sich damals auch öfter.
Wenn meine Mutter aufgeregt war, fing sie alle Sätze mit „Ach“ an ‒ wie an diesem Morgen, als Vater mich bewußtlos schlug.
„Ach Charles, du bist ja ganz verrückt . . .“
Mutters schrille Stimme. Vaters graugesprenkelter Bart und sein wild starrender Blick. Das Weiße der Augen in der kalten Morgendämmerung. Schmerz, Schmerz und kein Ende des Schmerzes ‒ und dann eine befreiende Dunkelheit.
Das sind Erinnerungen, die ich behalten werde, solange ich lebe. Meinem Vater merkte man nichts an nach dieser schrecklichen Nacht. Als ich aufwachte, hörte ich ihn Geige spielen. Dann setzte er vermutlich seinen alten Hut mit der abgeschnittenen Krempe auf und ging in seinen geliebten Garten hinaus.
Das erstaunte mich nicht, damals noch nicht. Vater schien eine erstaunliche Fähigkeit zu haben, alles abzuschütteln, woran er nicht denken wollte, alles, was ihn nicht interessierte. Und Kinder waren völlig uninteressant ‒ außer als Arbeitskraft.
Ich erinnere mich an die spröden Geigentöne und daß Mutter auf der Bettkante saß und nach sauberem Leinen roch. Das tat sie immer, ich weiß nicht, wie sie das schaffte. Sie gab mir einen Becher warme Saftsuppe. Der Rand des Bechers war warm und glatt. Mutter sagte fast nichts, aber ihre Augen glänzten und waren gerötet. Danach ging ich Vater wochen- und monatelang aus dem Weg. Ich wünschte mir, daß er sterben würde, daß er verschwinden würde und nie mehr zurückkäme. Allein sein Geruch jagte mir Schrecken ein: Kautabak, alter Schweiß und irgend etwas Süßes, Scharfes, was eingetrocknetes Tierblut gewesen sein muß. Vater war ein eifriger Jäger, und obwohl Mutter protestierte, hatte er immer die gleichen Kleider an, bis sie ihm fast vom Leib fielen.
Die Jagd war ein wichtiger Teil unserer Versorgung. Den ersten Winter wären meine Eltern bestimmt verhungert, wenn Vater nicht so sicher mit dem Gewehr gewesen wäre.
Er trainierte gegen einen Sandabhang hinter dem Haus.
Aber das war nicht das einzige Mal, daß ich meinem Vater den Tod gewünscht hatte, keineswegs.
Ich werde nie den Tag im Spätwinter acht oder neun Jahre später vergessen. Ich war gerade vierzehn geworden, und ich saß in der Schule und buchstabierte mich durch eine Seite in einem Lesebuch mit grünen Deckeln. Ich hatte eine große Warze am Nagel des Zeigefingers, an der ich immerfort knabbern mußte.
Ich ging das erste Jahr in die Schule ‒ davor hatte es noch keine Schule gegeben ‒ und ich hatte gerade mal eben lesen gelernt. Die Sonne schien, und das Schmelzwasser tropfte vom Dach. Es war ganz still in der kleinen Torfhütte und stickig. Viele Kinder in jedem Alter drängten sich auf den drei langen Bänken.
Mrs. Ryan, die Lehrerin, hatte ihr rotes Kleid an. Es hatte einen runden Kragen und 15 Knöpfe, die wie kleine Sonnen glänzten. Das Kleid raschelte auf eine ganz bestimmte Art, wenn sie sich bewegte. Ich bewunderte sie grenzenlos. Sie gehörte einer anderen Welt an.
Mrs. Ryan hatte gerade ein großes Q an die Tafel gemalt, als wir draußen Pferde hörten.
Dann wurde die Tür aufgemacht, und Vater kam herein mit einigen der ältesten Siedler und einem großen, gebeugten Mann, den ich noch nie gesehen hatte. Ein Neuankömmling. Er hatte bestimmt viele Kinder. Er sah zumindest so aus.
Vater hatte seinen alten Militärmantel an, und die Haare hingen in grauen Strähnen unter der zerrissenen Fellmütze hervor. Er sah schrecklich aus. Primitiv. Er glich irgendwie einem Tier. Es war peinlich. Wenn er wenigstens nicht diese furchtbare Mütze aufgehabt hätte.
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