Stig Ericson - Dan Henry - Im Wilden Westen

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Die grosse weite Welt lockt: In diesem dritten Band der berühmten Kinderbuchserie ist unser Held, Dan Henry, der achtzehnjährige Kompanietrompeter, endlich im Land der großen Freiheit angekommen. Amerika, das Land, von dem er sehnsuchtsvoll geträumt hat. Die Wirklichkeit, die er hier jedoch vorfindet, entspricht ganz und gar nicht dem schönen Traumbild: Dan Henry erlebt den Wilden Westen hautnah. Er teilt das harte Los einer Farmerfamilie, sein Freund Martin fällt schwerbewaffneten, gierigen Western-Helden zum Opfer, er stößt auf die blutige Spur der Indianer und berührt zum ersten Mal das Geheimnis der Liebe. Er stellt sich der rauen Wirklichkeit, der er gegenübersteht und wächst an ihr. In der Auseinandersetzung mit der Rauheit seines neuen Lebens erlebt er Enttäuschung und Bitterkeit, aber er erlebt auch das Wunderschöne und Grausame an dieser neuen Welt – Rätsel über Rätsel, die ihn immer weiter in die Wildnis der Indianer führen… Dan Henry tritt dem Land aus Milch und Honing mit offener Stirn entgegen! Weitere Bücher der Reihe sind:Band1: Dan Henry's FluchtBand 2: Dan Henry allein im fremden LandBand 3: Dan Henry im Wilden WestenBand 4: Dan Henry Blas zum AngriffBiografische AnmerkungStig Ericson, 1929-1989, schwedischer Schriftsteller und Jazzmusiker, studierte auf Lehramt und betrieb nebenbei seinen eigenen Verlag «Två Skrivare». 1970 wurde er mit der Nils-Holgersson-Plakette ausgezeichnet. Die meisten seiner Kinder- und Jugendbücher spielen sich im Wilden Westen ab – hier versucht er, dem Leser das Schicksal und Leben der nordamerikanischen Indianer einfühlsam näherzubringen.-

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Stig Ericson

Dan Henry

Im Wilden Westen

Saga

Erster Teil

1

Northfield

Der Mann auf dem Bild trug Stulpenstiefel und einen Hut mit breiter Krempe. Er hielt mit grimmiger Miene zwei Pistolen auf uns gerichtet.

„Ha, so sieht ein echter Westerner aus“, bemerkte Martin. „Die können schießen! Und reiten erst! Und was für Pferde die haben, Donnerwetter!“

„Das glaub’ ich schon“, sagte ich.

„Die können sogar sechs Schüsse auf einmal abfeuern“, behauptete Martin. „Wenn ich mich nicht irre, werden sie Sechserschützen genannt.“

„Das können sie nicht“, widersprach ich.

„Und ob sie das können!“

„Nicht auf einmal, das mußt doch sogar du begreifen! Das weiß ich.“

„Wie kannst du das wissen?“

„Ich habe selbst schon mit Pistolen geschossen.“

„Wo denn?“

„Im Regiment.“

„Ach was, da hast du doch nur gespielt ...“

Ich hatte ihm erzählt, daß ich bei der Ersten Leibgarde in Stockholm Klarinettist gewesen war und daß ich das Regiment und Schweden nach einer blutigen Schlägerei in Djurgarden hatte verlassen müssen.

„Nicht nur“, entgegnete ich. „Wir durften auch schießen.“

„Aber nicht mit solchen Pistolen, wie sie die Westerner haben“, beharrte er. Wenn Martin es darauf anlegte, konnte er stur wie ein Bock sein.

„Nein, natürlich nicht“, gab ich nach.

„Colt heißen sie“, sagte Martin. „Hier steht es. Sieh mal!“ Er zeigte auf den englischen Text unter dem Bild. Ich weiß nicht, wo er die Zeitung aufgetrieben hatte. Sie war voller Bilder und hieß New Sensation oder so ähnlich. „Solche Stiefel kaufe ich mir, wenn wir nach Minnesota kommen“, erklärte Martin. „Und vielleicht auch eine Pistole.“ Ich antwortete nicht. Martin lehnte sich zurück und gähnte. Der Bartflaum in seinem kindlichen Gesicht schimmerte farblos im Licht des Wagenfensters. Bald würde das Geschnarche anfangen, und sein Mund würde immer weiter aufklappen.

Herrgott, wie mir sein Gesicht und sein dummes Geschwätz auf die Nerven gingen! Aber andererseits war ich doch auch froh, daß ich ihn getroffen hatte.

Ihm hatte ich es zu verdanken, daß ich in Nordamerika ein Ziel hatte, in dem neuen Land, in dem ich endlich angekommen war.

Tage und Nächte waren wir in harten Eisenbahnwaggons durchgerüttelt worden. Wir hatten schon lange nicht mehr ordentlich geschlafen. Auf rußigen Bahnhöfen waren wir herumgeschubst worden, hatten uns durchgefragt, waren unsicher herumgestanden – und jeder neue Zug hatte härtere Sitze und rüttelte heftiger als der frühere.

Wir hatten aufgehört, uns für die Landschaft zu interessieren.

Wir hatten aufgehört, uns darüber zu unterhalten, wie es in Minnesota wohl werden würde.

Wir hatten aufgehört, uns Gedanken darüber zu machen, wann wir endlich in Northfield einträfen.

Es war an einem regnerischen Nachmittag Anfang November. Wir standen im Kohlenstaub und sahen die Lokomotive mit ihren drei Wagen davondampfen. Die Geräusche und Gerüche des Zuges blieben noch lange in der Luft hängen.

Ein Stück von uns entfernt stand – Martins ganzer Stolz – eine große, grünangestrichene Amerikakiste, die sein Bruder daheim in Schweden für ihn gezimmert hatte.

„Und was machen wir jetzt?“ fragte ich.

„Ich weiß nicht ...“

Ich wußte es auch nicht ...

Ein Bahnhofsgebäude, das wie eine Scheune aussah, dunkel gekleidete Männer neben den Gleisen, einige Pferdewagen, eine breite, lehmige Straße, an der langweilige zweigeschossige Häuser standen – ich fand Northfield öde und häßlich, fast feindselig.

„Wir werden wohl versuchen müssen, mit jemand zu sprechen“, sagte ich.

„Und Hunger hab’ ich auch“, murmelte Martin.

Als wir zum Bahnhofsgebäude hinübergingen, folgten uns mißtrauische Blicke. Ich fühlte mich genauso schäbig wie die Gegend hier, aber gleichzeitig war ich doch sehr gespannt auf das neue Land, und ich kann mich erinnern, daß ich meine Handfläche gegen eine Wand preßte und dachte, hier stehe ich also und presse meine Handfläche gegen die amerikanische Wand eines amerikanischen Hauses in Minnesota, und die Bretter stammen von Bäumen, die in den Wäldern der Indianer gewachsen sind; und dennoch kommt mir alles ganz selbstverständlich vor.

„Was ist los?“ fragte Martin.

„Nichts.“

Diesen Überlegungen hätte er sowieso nicht folgen können.

„Da drin scheint irgend jemand zu sein, der hämmert“, bemerkte er.

„Ja, ich höre es auch.“

Die Türe war nicht verschlossen; drinnen stand ein Mann, der eine Holzkiste zunagelte, hinter ihm war ein Regal, auf dem ich eine schwarze Schildmütze und eine Öllampe bemerkte.

„Frag ihn mal“, flüsterte Martin.

In diesem Augenblick hob der Mann den Kopf. Er hatte freundliche hellbraune Augen und trug zu große Hosen, die er mit Hosenträgern bis unter die Brust hochgezogen hatte.

„Sprechen Sie Schwedisch?“ fragte ich.

Er schüttelte den Kopf.

„Charles Nilssons settlement“, sagte ich langsam.

Ich hatte gelernt, daß eine Farm so auf englisch hieß.

„From Sweden?“ fragte der Mann. Als ich nickte, ging er an uns vorbei zur Tür hinaus und rief einen vierschrötigen Mann herbei, der einen schwarzen Hut aufhatte und dessen Wangen von feinen Äderchen überzogen waren.

„Ich hab’ doch gleich gedacht, daß ihr ein bißchen verloren wirkt“, sagte der Mann mit den Äderchen, als er zu uns herkam.

Er sah uns freundlich an und bemerkte, es komme nicht oft vor, daß Northfield von Besuchern aus Schweden beehrt würde, seit sich die Zeiten so verschlechtert hätten.

„Wir wollen zu jemand, der Charles Nilsson heißt“, erklärte ich rasch.

Von den schlechten Zeiten wollte ich nichts hören. Ich hatte schon früher davon gehört, aber auf dem Ohr hatte ich mich immer taub gestellt. Nordamerika war etwas Großes und Schönes, von dem ich lange geträumt hatte. Dieser Traum hatte mir über vieles hinweggeholfen, und ich wollte ihn mir so lange wie möglich bewahren.

Aber das wurde jetzt allmählich schwierig, jetzt, unmittelbar der Wirklichkeit gegenüber.

„Das ist nämlich mein Onkel“, erklärte Martin.

„Nilsson“, überlegte der Mann mit den Äderchen.

„Das wäre hier bei uns wohl Nelson. Und den Namen haben viele hier.“

Plötzlich erschien mir alles sehr unsicher, aber durch Fragen und Gegenfragen kamen wir doch allmählich dahinter, daß dieser Karl oder Charles Nilsson, zu dem wir unterwegs waren, einige Meilen weiter westwärts in Millersburg lebte.

„Ihr hättet eine Station weiterfahren müssen“, sagte der Mann mit den Äderchen. „Nach Dundas.“

„Aber in dem Brief stand dieser Ort“, beharrte Martin.

„Bist du ganz sicher?“ fragte ich.

„Und ob!“

Er warf mir einen wütenden Blick zu und kramte den Brief aus seiner Innentasche. Dann drehte er mir den Rücken zu und las lange.

„Hier! Sieh doch selber nach, dann siehst du, daß Northfield drin steht.“

Er sprach es wie Notfil aus.

„Lies es selbst!“ wiederholte er.

Ich las. Da stand tatsächlich Northfield. So hieße die nächste Stadt, aber das Dorf selbst heiße Millersburg, stand da, und in Dundas müsse man aussteigen.

Jetzt ging mir auf, daß Martin kaum lesen konnte, und wenn er mich nicht so triumphierend angestarrt hätte, hätte ich wohl meinen Mund gehalten. Aber so konnte ich es mir nicht verkneifen, es ihm unter die Nase zu reiben, und da wurde Martin natürlich wütend und fragte, ob ich denn jemals so weit gekommen wäre, wenn er mir nicht geholfen hätte, die Fahrkarte nach Chicago zu bezahlen!

„Du wolltest ja, daß ich mitkommen sollte“, entgegnete ich. „Zu deinem reichen Onkel! Ich habe nicht darum gebeten. Und wenn es so ist, daß ...“

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