Die Untersuchung wirft eine erkenntnistheoretische Frage auf. Mathematische Begriffe haben Merkmale, die wir durch unsere eigenen Tätigkeiten erfahren können – wie Eigenbewegungen oder Einprägen und Erinnern. Wie können wir mit diesen Begriffen Sachverhalte begreifen, die unabhängig vom Menschen existieren, wie z. B. die Naturgesetze der Physik? Sind die Tätigkeiten solche, mit denen wir Erfahrungen gewinnen können, und kann deswegen die Mathematik in den Erfahrungswissenschaften angewendet werden? Werden solche Tätigkeiten von einem Experimentator in einem Experiment ausgeführt? Diesen Fragen widme ich mich im vierten Kapitel.
Wir fragen nach der Bedeutung der Mathematik, insbesondere des Zahlbegriffs in unserer modernen Lebenswelt. Die Gegenstände der Mathematik scheinen zunächst ausgedacht. Ihre Eigenschaften werden aus Axiomen logisch hergeleitet, die wiederum frei gesetzt sind. Eine Bedeutung der Mathematik für die Erkenntnis und den erkennenden Menschen ist nicht ohne Weiteres sichtbar. Eine historische Betrachtung zeigt aber, dass die Begriffsbildung, insbesondere die mit Axiomen, erst am Schluss einer langen Entwicklung stattfand. Menschen zählten, rechneten und entdeckten Rechenregeln, bevor ein Zahlbegriff gebildet wurde.
Im Folgenden wird dargelegt, dass der Ursprung der Zahlen in dem Bedürfnis oder der Notwendigkeit lag, sich eine Mehrzahl von Gegenständen in das Gedächtnis, oder auch ein externes Medium, einzuprägen. Entsprechend lag der Ursprung des Zählens und Rechnens in den Gedächtnisoperationen Einprägen und Erinnern . Z. B. kann man sich unter der Addition, dem Dazu-zählen , ein fortlaufendes Einprägen in das Gedächtnis vorstellen, genauer: ein fortlaufendes Ausführen von Merkschritten. Wir wollen uns einer Antwort durch eine historische Untersuchung der Entwicklung von Erinnerungskulturen nähern, wobei wir eine Erinnerungskultur mit ihrem Zahl- und Zeitbegriff bzw. mit ihren Erscheinungsformen von Zahl und Zeit verschränken. Merkmale des jeweils kulturprägenden Erinnerns treten in ihrem Umgang mit Zeit und Zahl in Erscheinung. Sie werden in der griechischen Antike zum Begriff der zyklischen Zeit und dem Anzahlbegriff sowie in der Neuzeit zum Begriff der linearen Zeit und dem Begriff der Ordnungszahlen zusammengefasst. Wir werden eine Entwicklungslogik des Gedächtnisses entdecken, d. h., dass gewisse Phasen der Gedächtnisentwicklung notwendig andere Phasen voraussetzen, auf ihnen aufbauen. Mit der Entwicklung des Gedächtnisses geht die Genese des Zahl- und Zeitbegriffs einher. Die Entwicklungslogik betrifft nicht nur die historische – die hier dargestellt werden wird –, sondern auch die individuelle Entwicklung. Daher kann die Mathematikdidaktik durch diese Untersuchung neue Impulse erhalten. Darüber hinaus verspricht sie neue Erkenntnisse für die Wissenschafts- und Kulturgeschichte, die Erkenntnistheorie und das damit zusammenhängende Selbstverständnis. Studierende eines MINT-Faches lernen, mathematische Sachverhalte in anschaulich nachvollziehbare Zusammenhänge einzuordnen. Sie gewinnen dadurch an Verständnis, mathematischer Lernkompetenz und Motivation.
Der Aufbau des Buches orientiert sich an der These, dass dem Zahl- und Zeitbegriff vorbegriffliche Konzepte zugrunde liegen, die ihnen historisch vorausgegangen sind.
Zeit und Zahl in der Erinnerungskultur der Neuzeit
Wir beginnen mit der Kultur, die uns vertraut ist, nämlich unserer eigenen. Der Mensch der Neuzeit verdankt sein Selbst- und Gegenstandsbewusstsein sowie seine zeitliche und räumliche Orientierung Erfahrungen mit dem episodischen Erinnern. Dieses prägt maßgeblich Politik, Wirtschaft und Kultur. Der Mensch der Neuzeit erfährt eine linear zeitliche Ordnung durch episodisches Erinnern, aber auch die Struktur der Ordinalzahlen und sogar den punktförmigen Gegenwartsmoment. All diese Erfahrungen gehen in den modernen Zahl- und Zeitbegriff ein und sind eine notwendige Voraussetzung der Naturwissenschaft.
Merken und Erinnern, Zählen und Rechnen
Dieses Kapitel widmet sich den Anfängen in der Entwicklung des Zahl- und Zeitbegriffs. In archaischen Kulturen verwendeten die Menschen Merkhilfen wie gekerbte Knochen oder Hölzer, Knotenschnüre, Haufen aus Kieselsteinen oder Muschelschalen. Mit ihnen sind archaische Rechnungen möglich. Ein Mensch, der sich eine bestimmte Menge an Gegenständen nicht in ein äußeres Medium einprägen will, sondern in sein Gedächtnis, muss das schrittweise tun. Zahlzeichen oder Zahlwörter können das Gedächtnis entlasten.
Phänomene des Erinnerns und Wahrnehmens
Nachdem in den ersten beiden Kapiteln die Bedeutung der Phänomene des Erinnerns für vorbegriffliche Zahl- und Zeitkonzepte im Vordergrund stand, untersuche ich anschließend hier nun die Phänomene eingehender, u.a. ihren Zusammenhang mit dem Wahrnehmen. So lässt sich das kulturprägende Erinnern einer Epoche identifizieren, aber auch ihre vorbegrifflichen Zahl- und Zeitkonzepte.
Was sind Begriffe? Wofür verwenden wir sie? Was haben sie mit logischem Denken zu tun? Wir lernen einen Begriff als eine Zusammenfassung von Merkmalen kennen, über die wir etwas aussagen, aus denen wir logische Schlüsse ziehen können. Da wir die Merkmale eines Zahl- und Zeitbegriffs nur nacheinander durch entsprechende vorbegriffliche Konzepte erfahren können, wird zur Begriffsbildung ein gewisses Erinnerungsvermögen benötigt.
Zeit und Zahl in der antiken griechischen Erinnerungskultur
Die Ergebnisse der letzten beiden Kapitel finden hier Anwendung auf die antike griechische Epoche. Wir können nun das kulturprägende Erinnern als ein semantisches identifizieren. In Platons Zeitbegriff und in Euklids Zahlbegriff erkennen wir Merkmale gewisser semantischer Erinnerungen. Nun wird deutlich, worin sich die moderne Mathematik von der antiken griechischen Mathematik unterscheidet.
An einer Erinnerung sind im Allgemeinen mehrere Gedächtnisarten beteiligt. Sie sind nicht voneinander unabhängig. Einige bauen auf anderen auf und lassen eine Entwicklungslogik erkennen. Dieser gehorcht auch die kulturelle Entwicklung des Erinnerungsvermögens. Sie korrespondiert mit der Entwicklung der Zahl- und Zeitbegriffe sowie ihrer vorbegrifflichen Konzepte.
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