Mit dem vorliegenden Buch möchte ich Aufschluss über die Bedeutung der Mathematik geben. Durch eine historische Betrachtung – gleichsam archäologisch – werde ich unter Sedimenten Verborgenes freilegen. Die Bildung eines mathematischen Begriffs findet am Ende einer häufig sehr langen Entwicklung statt. Dafür gibt es viele Beispiele, etwa die Differential- und Integralrechnung, die von Leibniz und Newton bereits im 17. Jahrhundert entdeckt wurde. Um sie begrifflich zu erfassen, brauchte es den Grenzwertbegriff, der aber erst im 19. Jahrhundert von Cauchy und Weierstraß formuliert wurde. Doch haben Newton und Leibniz wohl kaum etwas entdeckt oder zumindest erahnt, was sich Cauchy und Weierstraß erst im 19. Jahrhundert ausgedacht hätten. Die alten Babylonier kannten schon vor über 3000 Jahren elaborierte Rechentechniken, die zum Teil noch heute angewendet werden. Da ihre Sprache jedoch kein Wort für Zahl besaß, kannten sie auch keinen Zahlbegriff (Damerow, Englund, & Nissen, 1994). Ein Zahlbegriff ist uns erst von den antiken Griechen überliefert. Er ist ein Begriff über eine Anzahl. Der italienische Mathematiker Guiseppe Peano publizierte Ende des 19. Jahrhunderts den modernen Zahlbegriff, indem er die Struktur der natürlichen Zahlen durch eine Nachfolgerbeziehung charakterisierte. Durch die Nachfolgerbeziehung sind die natürlichen Zahlen linear angeordnet, nämlich in der Reihenfolge, in der wir sie zählen: 1, 2, 3 … usw. Daher werden die so definierten Zahlen auch Ordnungszahlen genannt. Jedoch wurde bereits im 16. Jahrhundert eine Aussage über die natürlichen Zahlen aus der Nachfolgerbeziehung hergeleitet. Also hat sich Guiseppe Peano die Struktur der natürlichen Zahlen nicht ausgedacht. Die Menschen zählten und rechneten schon seit etlichen Jahrtausenden. Sie entdeckten Rechenregeln. Nach und nach entdeckten sie aber auch, dass die Rechenregeln logisch von gewissen Merkmalen der Zahlen abhängen, und allmählich wurden den Mathematikern diese Merkmale bewusst. Das Bewusstsein über die Merkmale ist eine notwendige Voraussetzung, sie zu einem Begriff zusammenzufassen.[1] Die Merkmale wurden also nicht aus den Axiomen hergeleitet, sie waren vor den Axiomen bekannt. Die Entdeckung bestand darin, dass man erkannte, sie aus gewissen Aussagen herleiten zu können. Anders als häufig angenommen, sind nicht etwa die Axiome zuerst da, und dann ihre logischen Folgerungen, sondern es ist umgekehrt: zuerst die logischen Folgerungen und dann die Axiome. Axiome sind zwar logisch ursprünglich, aber genetisch stehen sie am Ende einer mathematischen Begriffsbildung. Wenn die Menschen schon mit Zahlen gezählt und gerechnet, Rechenregeln erkannt und Eigenschaften über Zahlen ausgesagt haben, bevor ein Zahlbegriff gebildet wurde, dann stellt sich die Frage nach der Herkunft der Zahlen. Was ist ihre Genese?
Nicht unerheblich ist dabei die Frage, warum die antike griechische Geometrie in der Renaissance so populär war, eine weit verbreite Anwendung fand und sich auf ihrer Grundlage das moderne wissenschaftliche Weltbild entwickelt hat. Die von Euklid überlieferten geometrischen Begriffe haben einen anderen Charakter als die Begriffe der modernen Strukturmathematik. Die Definitionen Euklids bestimmen keine Beziehungen von Objekten einer Struktur, sondern sie charakterisieren die Objekte selbst. Euklid appellierte in seinen Schriften, sich unter den Eigenschaften mathematischer Gegenstände, wie z. B. Punkt und Gerade, etwas vorzustellen. Nach zweieinhalb Jahrtausenden fällt uns heute das Verständnis nicht immer ganz leicht, die euklidischen Definitionen hinterlassen durchaus Rätsel und Interpretationsbedarf. Wir können aber in den Begriffen der Euklidischen Geometrie Merkmale der Bewegung erkennen. Z. B. definiert er eine »Linie« als eine breitenlose Länge. Wenn wir uns nun unter einer Linie etwas vorstellen wollen, dann stellen wir uns im Allgemeinen eine gezeichnete Linie vor. Ein naheliegender Einwand ist, dass eine gezeichnete Linie doch sehr wohl eine Breite habe. Dem wird üblicherweise erwidert, dass eine gezeichnete Linie auch nur die Darstellung einer euklidischen Linie sei, eine Euklidische Linie ist dagegen eine idealisierte Linie. Was ist aber eine idealisierte Linie? Eine idealisierte Linie erhalte man, wenn man von der Breite einer gezeichneten Linie absehe. Das aber hilft nur bedingt weiter, denn was bleibt dann von ihr übrig?
Ich will daher einen anderen Zugang zu den Begriffen der Euklidischen Geometrie vorschlagen. Versuchen Sie einmal mit geschlossenen Augen Ihre Nasenspitze mit einem Zeigefinger zu berühren! Dabei vollziehen Sie eine Bewegung. Um sie zielgerichtet und kontrolliert auszuführen, müssen Sie Eigenschaften der Bewegung wahrnehmen. Um das besser nachzuvollziehen, können Sie das Experiment etwas abwandeln. Nehmen Sie einen Stift in eine Hand, und versuchen Sie, mit der Spitze des Stiftes Ihre Nasenspitze zu berühren. Mit geschlossenen Augen dürfte Ihnen das sehr viel schwerer fallen. Sie nehmen so auch keine Eigenschaften der Bewegung des Stiftes wahr, sondern nur Eigenschaften ihrer eigenen Körperbewegung. Was sind das für Eigenschaften? Nun bin ich nicht so töricht, Sie darüber belehren zu wollen, was Sie wahrnehmen. Stattdessen fordere ich Sie auf, selbst auf das zu achten, was sie in ihrem Körper spüren, wenn Sie Ihren Zeigefinger bewegen. Zunächst spüren Sie in jedem Augenblick die Lage Ihrer Körperteile zueinander. Die spüren Sie aber auch, wenn Sie sich nicht bewegen. Während der Bewegung spüren Sie zusätzlich, wie schnell sie ihren Zeigefinger bewegen, und auch, in welche Richtung. Für das Wahrnehmungsphänomen gibt es eine physiologische Erklärung. Es gibt Sinneszellen in den Muskeln, Sehnen und Gelenken, auf die Eigenbewegungen in jedem Moment einen Eindruck machen. Richtung und Geschwindigkeit einer Eigenbewegung erfahren wir permanent als Sinneseindruck. Er wird uns selten bewusst, da wir meistens routiniert, also unbewusst darauf reagieren. Wenn wir die in jedem Moment wahrnehmbare Richtung einer Eigenbewegung als euklidische Länge interpretieren, dann können wir mithilfe dieser Eigenbewegung eine euklidische Linie erfahren. Eine Bewegung ist nur in einer Richtung, der euklidischen »Länge«, möglich. Eine Bewegung in eine andere Richtung, etwa in die Senkrechte, die euklidische »Breite«, ist nicht gleichzeitig, mit ein und derselben Bewegung möglich. Dafür ist eine zweite Bewegung nötig. Ich werde den Zusammenhang zwischen Bewegung und der Euklidischen Geometrie im ersten Kapitel vertiefen. An dieser Stelle möchte ich jedoch festhalten, dass die Begriffe der Euklidischen Geometrie Merkmale der Bewegung aufweisen. Diese Merkmale haben es den mobilen Menschen der Renaissance erlaubt, die antike Geometrie anzuwenden.
Während im Mittelalter die Menschen vorwiegend ortsgebunden lebten und sogar weitgereiste Ritter, Adlige oder Kreuzfahrer kaum Vorstellungen über die zurückgelegten Distanzen entwickelten,[2] wurden die Menschen während der Renaissance mobil. Weite Handelsreisen auf Land und zur See wurden unternommen, neue Kontinente und Seewege entdeckt. Bereits ab dem späten Mittealter gingen die jungen Gesellen nach ihrer Lehrzeit in einem städtischen Handwerksbetrieb auf Wanderschaft und entwickelten so im Gegensatz zur ortsgebundenen Landbevölkerung eine gewisse Weltläufigkeit. Die Mobilität brachte es mit sich, dass die Euklidische Geometrie mit ihren Merkmalen der Bewegung Anwendung fand – z. B. in Kartographie und Navigation. Galilei begründete die Physik mit der Kinematik, der Lehre der Bewegungen. Er experimentierte mit der schiefen Ebene und Pendeln und entdeckte so mathematische Beziehungen zwischen Bewegungsvorgängen. Nach Newton (1643–1727) bestand die Aufgabe der Physik darin, »[…] aus den Erscheinungen der Bewegung die Kräfte der Natur zu erklären, und hierauf durch diese Kräfte die übrigen Erscheinungen zu erklären« (Newton, 1872). Bis heute hängen die physikalischen Größen wie Weg, Zeit, Masse oder elektrische Ladung direkt oder indirekt mit Bewegungsvorgängen zusammen. Jede Messung einer physikalischen Größe beruht auf Bewegungen – es wird eine Ortsveränderung gemessen.
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