Helmut Lauschke
Gleise der Erinnerung
Von den Gewichten des Lebens
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Inhaltsverzeichnis
Titel Helmut Lauschke Gleise der Erinnerung Von den Gewichten des Lebens Dieses ebook wurde erstellt bei
Das Wort ‘Leben’ Das Wort ‘Leben’ Von den Gewichten des Lebens David: Zwei Dinge beherrschen die Landschaft, es sind die Türme und die Gräben. Bei den Türmen unterscheiden sich die Kirchtürme von den Wach- und Schießtürmen und bei den Gräben sind es zum einen die Gräben der militärischen Verteidigung und zum andern die Gräben zum Auffüllen mit erschossenen Männern, Frauen und Kindern. Es ist das Landschaftsbild der Trostlosigkeit, der Verworfen- und Verlorenheit und der Schande durch die Arroganz und den Mangel an Brot und Menschlichkeit. Um die Achse windet sich die Höhe. Sie flieht im Auf und Ab, dazwischen schlagen die Schwingen am federnden Stab. Kräfte stählen sich in Biegungssprüngen, während Zugleinen sich von einem Ende zum andern spannen. Nicht weniger heftig stürmt der Wind, dass Köpfe in die zerschlissenen Krägen tauchen, und die Augen hinter engen Schlitzen über den verwehten Rändern blinzeln. Seegras hängt an Kettenschlössern, Schlammdecken schlieren herum, das der Anker beim Losmachen zerreißt. Erinnere dich: Liebe bestreitet dem Tod die Stärke, während Ketten des Lebens mühsame Werke zusammenhalten. Es sind die Gluten lohender Flammen, und die Ströme schwemmen sie nicht fort. So ähnlich ist der Wuchs der Dattelpalme, dessen Trauben die wunderbaren Früchte sind. Der Atem trägt den Apfelhauch. Dein Kuss ist’s, der sich auf die Lippen drückt, köstlich schmeckt wie vollmundiger Wein. Ich höre den Brotlaut des gefallenen Jungen vom Brot, das ihm die Mutter buk und in den Tornister steckte. Ich glaube, das Wort ‘Leben’ gehört zu haben, es klingt im Ohr, ohne das Fluchtziel zu erkennen. Die Laute, die ausgefragten und heraus geschlagenen schwirren durch die Luft. Sie echoen von den Hängen zurück. Doch dann zerflusen sie in und zwischen die Brisen hindurch. Ein Kranichpaar durchfliegt sie mit wenigen Flügelschlägen und stumm. Das und noch vieles mehr, bevor sich der Feuerball versenkt.
Das ist doch der Kinderarzt Dr. Weynbrand
Der Planet ist Teil von uns
Zwischen Turm und Graben - David, das vergessene Kind
Der Mensch hat seine Identität
Totensonntag
Vorbei an Glas und Gläserwelt
Die späte Einberufung von Paul Gerhard Dorfbrunner
Aus der Handvoll Erde
Das Verhör im Haus der SA
Im Weiterwissen
Nachttreff mit dem Doppelagenten
Mit dir, der Eingefremdeten
Klaus und Heinz, zwei ungewöhnliche junge Soldaten
Einer klemmt sich die Bratsche unters Kinn
Auf der Suche nach Arbeit: Vorstellung an der Stein-Oberschule
In der Erinnerung
Der Denunziant / Das Verhör
Aufeinander prallende Schläfen
Der Urteilsspruch
Ein Ton wird durch die Wand geklopft
Boris Baródin in Warschau zum Vortrag des 2. Klavierkonzertes von Brahms
Er klimmt hoch
Die Psychose im Wandel der Gesellschaft
Der Augenfalter sinkt herab
Ilja Igorowitsch zu seinem Sohn Boris Baródin
Mit der Schrittbeschleunigung
Ich bin unten
Deine Konturen
Wenn es in den Tongefäßen
Für was
An den Fäden hängen Hälse
Ein Antlitz
Im Wetter
Impressum neobooks
Von den Gewichten des Lebens
David:Zwei Dinge beherrschen die Landschaft, es sind die Türme und die Gräben. Bei den Türmen unterscheiden sich die Kirchtürme von den Wach- und Schießtürmen und bei den Gräben sind es zum einen die Gräben der militärischen Verteidigung und zum andern die Gräben zum Auffüllen mit erschossenen Männern, Frauen und Kindern. Es ist das Landschaftsbild der Trostlosigkeit, der Verworfen- und Verlorenheit und der Schande durch die Arroganz und den Mangel an Brot und Menschlichkeit.
Um die Achse windet sich die Höhe. Sie flieht im Auf und Ab, dazwischen schlagen die Schwingen am federnden Stab.
Kräfte stählen sich in Biegungssprüngen, während Zugleinen sich von einem Ende zum andern spannen.
Nicht weniger heftig stürmt der Wind, dass Köpfe in die zerschlissenen Krägen tauchen, und die Augen hinter engen Schlitzen über den verwehten Rändern blinzeln.
Seegras hängt an Kettenschlössern, Schlammdecken schlieren herum, das der Anker beim Losmachen zerreißt.
Erinnere dich: Liebe bestreitet dem Tod die Stärke, während Ketten des Lebens mühsame Werke zusammenhalten.
Es sind die Gluten lohender Flammen, und die Ströme schwemmen sie nicht fort. So ähnlich ist der Wuchs der Dattelpalme, dessen Trauben die wunderbaren Früchte sind.
Der Atem trägt den Apfelhauch. Dein Kuss ist’s, der sich auf die Lippen drückt, köstlich schmeckt wie vollmundiger Wein.
Ich höre den Brotlaut des gefallenen Jungen vom Brot,
das ihm die Mutter buk und in den Tornister steckte.
Ich glaube, das Wort ‘Leben’ gehört zu haben, es klingt im Ohr, ohne das Fluchtziel zu erkennen.
Die Laute, die ausgefragten und heraus geschlagenen schwirren durch die Luft. Sie echoen von den Hängen zurück.
Doch dann zerflusen sie in und zwischen die Brisen hindurch. Ein Kranichpaar durchfliegt sie mit wenigen Flügelschlägen und stumm.
Das und noch vieles mehr, bevor sich der Feuerball versenkt.
Das ist doch der Kinderarzt Dr. Weynbrand
Es war bekannt, dass jüdische Professoren von ihren Lehrstühlen vertrieben, jüdische Richter aus den Gerichten verwiesen wurden, ihnen die Ausübung der Berufe unter Strafandrohung verboten wurde. Die Praxen jüdischer Anwälte und Ärzte wurden geschlossen, wenn sie nicht vorher von arischen Kollegen übernommen worden waren. Viele der jüdischen Wissenschaftler, Ärzte, Architekten und Künstler waren ins Ausland emigriert zu einer Zeit, als die Emigration noch möglich war. Doch das hatte sich bald zum Entsetzen der Juden geändert, für die die deutsche Reichsgrenze hermetisch abgeriegelt war. Für sie gab es keine Ausreiseerlaubnis. Der Fluchtweg unter Einsatz des Lebens und Zurücklassung des Eigentums war ihnen abgeschnitten. Für sie waren ganz andere Maßnahmen vorgesehen.
Das Stadtbild hatte sich seit der Reichskristallnacht drastisch und nachhaltig zum grausamen Erschrecken verändert. Die zerschlagenen Schaufenster wurden verbrettert und mit dem Judenstern oder dem Wort “Jude” beschmiert. Erst mit der Übernahme durch einen Arier bekamen die Fenster neue Scheiben. Die Synagoge verblieb im geschändeten Zustand und bot das Dauerbild trauriger Verwahrlosung. Den Juden war das Abhalten des Gottesdienstes untersagt. Die antisemitischen Gesetze und Erlasse betrafen alle Familien. Es musste der arische Nachweis von denen erbracht werden, die als Beamte im Staatsdienst standen. Dazu zählten Professoren, Lehrer, Busfahrer, wie auch die Priester und Pastöre. Gab es bei den Vorfahren jüdisches Blut, dann halbierte sich der jüdische Blutanteil von Generation zu Generation, vorausgesetzt, dass in den Folgegenerationen keine jüdische Auffrischung erfolgte. So war jemand ein Vierteljude, wenn Großvater ein Jude oder Großmutter eine Jüdin war. Für den Vierteljuden gab es im Staatsdienst keine Anstellung.
Auch wenn Eckhard Hieronymus arisch “rein” war, so war seine Frau, Luise Agnes, eine Halbjüdin, weil ihre Mutter, Elisabeth Hartmann, eine getaufte Jüdin war, die mit dem Mädchennamen Sara Elisa Kornblum hieß. An der Seite ihres Mannes, dem Pastor Eduard Hartmann, seit fünf Jahren im Ruhestand, war sie eine treue Ehefrau, eine gute Mutter, Großmutter und Christin, die den Gottesdienst regelmäßig besuchte und das Leben und Werk des Apostels Paulus bewunderte. Eckhard Hieronymus nahm den Nachweis mit der arischen Asymptote ernst.
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