Helmut Lauschke
Namibia - Von der Weite der Landschaft zur Enge des Denkens
Band 2
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Inhaltsverzeichnis
Titel Helmut Lauschke Namibia - Von der Weite der Landschaft zur Enge des Denkens Band 2 Dieses ebook wurde erstellt bei
Band II Band II Den Menschen, die in der schwersten Zeit Menschlichkeit zeigten und Vorbild waren, zum Dank.
Die Helden, die Ratten und das sinkende Schiff
Der Militärpsychologe
Zweifel an der Vernunft
Von den ersten Asymptoten an den Kegel der Zukunft
Die schwarzen Masten sind in Sicht
Die Granatenschläge kommen bis ans Hospital
Das Mädchen mit dem Knochentumor im rechten Oberarm
Wie die Stunden verflogen
Das Schädeltrauma mit dem Panga
Der schwarze Zwerg auf Rollen
Das Anlegemanöver
Die überfüllte Barclay’s Bank wird in die Luft gesprengt
Vom Zeitgeist und seinen Entartungen
Die Übergangsperiode
Der Machtwechsel und die Folgen
Die Vorbereitungen und der königliche Besuch
Einer, der es wissen sollte und sich drückte
Der beschämende Bettelgang
Internationales Symposium zur Errichtung einer Medizinischen Fakultät in Namibia
Zur Statik und Architektur der Studientürme
Es gab noch etwas zu sehen
Der Pierrot mit Geige ohne Boden
Anhang
Impressum neobooks
Den Menschen, die in der schwersten Zeit Menschlichkeit zeigten und Vorbild waren, zum Dank.
Die Helden, die Ratten und das sinkende Schiff
Die Zeiten hatten sich verschlechtert, und die Front der Ablehnung zwischen der schwarzen Bevölkerung und der weißen Besatzungsmacht hatte sich weiter verhärtet. Jeden Tag gab es Tote und Verletzte, und ihre Zahl nahm zu. Die Koevoet hatte ihr Benehmen nicht geändert, sie walzte ganze Krale platt, wenn nur der Verdacht bestand, dass sich ein SWAPO-Kämpfer dort versteckt halten könnte. Der Bruder- und Schwesternmord war an der Tagesordnung, weil der, der es für Geld und gutes Essen tat, sich zum Morden verpflichtet fühlte, um nicht vom Geld und guten Essen abgeschnitten zu werden. Er tat es mit sattem Magen und wohlüberlegt, während der andere es mit hungrigem Magen und ohne Bezahlung tat, weil er an die Menschen dachte, denen die Befreiung aus der Knechtschaft seit Langem zustand. Der gut Genährte hörte nicht mehr auf die abgemagerten und besorgten Eltern, deren Kräfte verbraucht waren, die ihn vor dem Bruderund Schwesternmord warnten, während sie dem anderen Sohn und der anderen Tochter, die sich der Befreiung verschrieben, unter der Hand zusteckten, was sie an Nahrung und Bettdecken geben konnten und sie zu größter Vorsicht mahnten. Die Eltern verhielten sich still in ihrer Armut. Sie dachten viel und sprachen wenig über die Gefahren, die in der Fremde auf ihre Kinder lauerten. Sie zogen sich in die Hütten der Erbärmlichkeit zurück, zersorgten sich, wenn sie an Kain und Abel dachten, und beteten für ein baldiges Ende des fürchterlichen Krieges. Viele von ihnen wurden krank und starben nach kurzer Zeit, weil die Sorgen sie zerfraßen. Andere wurden aus ihren Hütten gezerrt, geknebelt und geschlagen, weil sie nichts auf ihre Söhne und Töchter kommen ließen, die ihnen die Freiheit zu Lebzeiten versprachen und sich dem Befreiungskampf angeschlossen hatten. Die Jugend konnte die Schändung der Väter und Mütter nicht länger ansehen, weil sie ihre Eltern waren. So verließen viele ihre Dörfer, einzeln und in Gruppen, versteckten sich hinter Büschen und in Höhlen vor den patrouillierenden „Casspirs“, gingen nachts die langen Wege bis zur Grenze, ließen sich von den Grenzbewohnern den Weg zwischen den ausgelegten Minen zeigen und überschritten die Grenze nach Angola mit der patriotischen Kraft, der selbst der knurrende Magen und die zerrissene Kleidung keinen Abbruch taten. Die Jugend machte es nicht mehr mit, das schwarz weniger wert sein sollte als weiß. Sie erhob sich und war begeistert, an der Befreiung der schwarzen Menschen aktiv teilzunehmen. Ganze Schulklassen verließen mit ihren Lehrern das verprellte Land der weißen Vorherrschaft. Oft wussten es nicht einmal die Eltern, wenn sie den Marsch über die Grenze machten und die Schicksalsgemeinschaft bauten, die enger und stärker war als in der Schule, weil nun die Unbedingtheit der persönlichen Disziplin und das gegenseitige Vertrauen zählte, wenn Decken, Brot und Wasser verteilt wurden, das Selbstverständnis der gegenseitigen Hilfe da sein musste, aus dem dann die Erkenntnis kam, dass nur aus einer solchen Gemeinschaft die unbezwingbare Kraft erwuchs, mit der das Ziel zu erreichen war. Die Koevoet machte weiter ihre nächtlichen Razzien im Hospital und nahm auf die Patienten keine Rücksicht. Es kam immer wieder vor, dass sie die Schlafenden auf dem Betonboden vor der Rezeption aus dem Schlaf scheuchte und Männer schlug und in die „Casspirs“ warf, die sich nicht ausweisen konnten. Der Superintendent mit der Knolle auf der Nase und den Schlaffalten im Gesicht, der hemdsärmelig von seinem großen Schreibtisch aus die Morgenbesprechungen führte und einmal mit kreideweißem Gesicht aus der Besprechung rannte, um sich auf der Toilette auszukotzen, weil er sich am Vortag beim Abendessen mit dem Kommandeur die Augen rot getrunken hatte, sich für den Rest der Besprechung auf der Toilette versteckt hielt und damit unangenehmen Fragen schlichtweg aus dem Weg lief, dieser Superintendent saß weiterhin hemdsärmelig hinter dem Schreibtisch, auch wenn seine Hemdsärmeligkeit nur eine Attrappe war, die nichts bewirkte. Er ging weiterhin heiklen Fragen aus dem Weg, indem er im entscheidenden Moment das Taschentuch aus der Hosentasche zerrte, es sich vors Gesicht hielt und kräftig und so lange hineinschnäuzte, bis sich das Momentum des Antwortgebens verzogen hatte, wobei er das rechte Brillenglas gleich mit zudeckte, wenn er die Brille nicht rechtzeitig abnahm, weil es zu eilig war. Da mutete ihm als Einäugigen aber auch keiner eine Antwort zu. Er war nicht dumm, und so zog er es vor, sein Clownsgesicht hinter dem Taschentuch zu verstecken, wenn es um ernste Dinge ging und eine Antwort wirklich erwartet werden musste. Der Toilettenlauf gegen die Zeit mit ihren Problemen blieb sein einsamer Höhepunkt. Die jungen Kollegen in Uniform, die ihre Dienstzeit abgeleistet hatten, wurden nicht mehr durch neue ersetzt. Das war ein deutliches Omen der zugespitzten Situation, wobei sich noch die Frage ergab, wann sich die letzte Spitze abgespitzt hatte oder noch vorher abbrach, was politisch und militärisch dem Ende gleichkommen musste. Es gab neue Gesichter im Besprechungsraum, Gesichter mit asiatischem Einschlag, wenn auch nicht so schlitzäugig wie ein japanisches, chinesisches oder mongolisches Gesicht. Es waren Filipinos, die aus Südafrika kamen und gleich ihre Frauen und Kinder mitbrachten. Zu erklären war das Kommen dieser kurz gewachsenen Bleichgesichter mit den kubischen Köpfen und sanften Gesichtszügen zu diesem Zeitpunkt eigentlich nicht, und noch weniger, dass sie gleich die Familien mitbrachten. War es ihnen in ihrer Heimat, oder als Emigranten in Südafrika so schlecht ergangen, dass sie hier das Paradies fanden oder zu finden glaubten, wo der Krieg erbarmungslos tobte, fragte sich Dr. Ferdinand. Er musste sich Zeit lassen, um eine plausible Antwort darauf zu finden. Ein asiatisches Gesicht gab ihm von jeher Rätsel auf, weil er es nicht lesen konnte und nie wusste, ob ein Lächeln wirklich ein Lächeln war, oder ob sich das Gegenteil dahinter verbarg. Er wusste nur so viel, dass das asiatische Gesicht asiatische Dimensionen des zweigesichtigen Januskopfes hatte, das mit Vorsicht gesehen werden musste.
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