Am Abend fütterte ich ihn und nahm ihn vorsichtshalber für die Nacht in meinen Bungalow. Wenn er raus musste, weckte er mich ja, indem er auf mein Bett sprang, in die Decke biss und sich mit der Decke im Maul einfach fallen ließ. Ich stand dann auf, öffnete die Tür und wartete, bis er sein Geschäft erledigt hatte. Anschließend kam er wieder herein und wir schliefen weiter.
So geschah das auch in jener Nacht. Er weckte mich und ich ließ ihn hinaus, aber anstatt nach seinem Geschäft wieder herein zu kommen, wollte er mit mir spielen und tollte vor der Tür hin und her.
Ich schimpfte leise mit ihm und sagte, dass ich keine Lust hätte, jetzt in der Nacht zu toben aber er hörte nicht auf mich. Da ließ ich die Tür offen und dachte mir, dass er von selbst hereinkommen würde, wenn er sich ausgetobt hatte. Ich legte mich wieder hin und war fast eingeschlafen, als mich markerschütternde Schreie blitzartig hochfahren ließen.
Ich lief schnell hinaus, da ich das Schlimmste befürchtete, und sah gerade noch, den großen zotteligen Hund um die Ecke laufen.
Ich ging ein paar Meter und suchte Rommel. Da hörte ich ihn leise wimmern und sah ihn seltsam verkrümmt auf dem Boden liegen.
Am Hals war er blutig und als ich ihn aufheben wollte, bemerkte ich, dass wahrscheinlich durch einen Biss ins Genick seine Wirbelsäule gebrochen war. Aus seinen kleinen dunklen Kulleraugen schaute er mich an, als ob er mich bitten wollte „Hilf mir doch!“, aber ich konnte ihm nicht mehr helfen. Ich legte dem kleinen Racker meine Hand unter sein Köpfchen und sprach beruhigend auf ihn ein. Mir schossen Tränen in die Augen, weil ich wusste, dass ich das liebe Kerlchen in wenigen Minuten verlieren würde.
Ich hatte mich so sehr an ihn gewöhnt und konnte mir gar nicht vorstellen, dass sein kurzes Leben so schnell zu Ende gehen sollte. Er schaute mich traurig mit seinen braunen Knopfaugen an und unter Schütteln seines kleinen Körpers starb er in meinen Händen.
Ich hob den Hund sanft auf meine Arme und trug ihn in seinen Hundezwinger.
Am Morgen nahm ich ihn dann mit zur Baustelle und begrub ihn dort an einer schattigen Stelle hinter einem Container. Die Ägypter, die sonst den ganzen Tag auf mich einredeten, bemerkten meine Trauer und ließen mich an jenem Tag in Ruhe.
Mich hatte eine unbändige Wut gepackt und ich war fest entschlossen, auch dem Leben des schwarzen Hundes ein Ende zu bereiten. Ich lag die folgenden Abende mit einem Eisenrohr auf der Lauer, doch als ob er es geahnt hätte, ließ sich der Schwarze nicht mehr blicken.
Wenige Tage nach dem traurigen Ereignis rückte die erste Montagekolonne zu meiner Baustelle an, um die Hallen zu stellen.
Mit ihr kamen auch neue Ägypter. Unter ihnen befand sich ein älterer Mann, den eine starke Aura umgab. Sein Name war Mohammed und er sah mit seinen langen, weißen Haaren und seinem gepflegten, weißen Bart tatsächlich wie ein Nachkomme des gleichnamigen Propheten aus.
Bereits bei unserem ersten Blickkontakt befiel mich eine starke Sympathie zu diesem mir völlig unbekannten Menschen und ich spürte, dass dies auf Gegenseitigkeit beruhte.
Die Achtung der ägyptischen Arbeiter vor diesem Mann und der sich entwickelnde Einfluss zu ihnen trugen dazu bei, dass er von seinen Kollegen zum Sprecher und von den deutschen Kollegen schon bald zum Vorarbeiter bestimmt wurde.
Er war ein sehr ruhiger, besonnener Mann mit einer tiefen, sympathischen Stimme. Schon am ersten Tag kamen wir beide ins Gespräch und ich stellte sofort fest, dass er nicht nur äußerst höflich, sondern darüber hinaus auch sehr intelligent war.
Er sprach mich grundsätzlich mit „Sir“ an und hatte große Achtung vor mir, obwohl ich wesentlich jünger war als er. Ihm fiel sofort auf, dass ich den ägyptischen Arbeitern englische Arbeitskommandos gab und dass einige der Männer mich deshalb nicht verstanden, da ein Großteil aus einfachen, ungebildeten Schichten stammte.
So war es bisher zuweilen vorgekommen, dass Arbeiten falsch oder nicht vollständig erledigt wurden und das war ärgerlich.
Er bot mir deshalb an, mir die arabische Sprache in ihren Grundzügen beizubringen, vor allem die Zahlen und die Bezeichnungen, die für unsere Arbeit wichtig waren.
Mohammed sprach ein ausgezeichnetes Englisch, was mir sehr entgegenkam, da ich auf diese Weise auch mein Schulenglisch verbessern konnte. Außerdem beherrschte er die persische und die türkische Sprache perfekt. Den Grund für seine Vielsprachigkeit erfuhr ich einige Zeit später, als wir uns angefreundet hatten und er mir an zahlreichen Abenden seine außergewöhnliche und überaus spannende Lebensgeschichte erzählte, die mich noch viele Jahre später auf eine besondere Weise beschäftigen sollte.
Als hätte ich das zu jenem Zeitpunkt bereits geahnt, machte ich mir von Mohammeds Berichten Stichpunkte in meinem Notizbuch, in dem ich auch sämtliche arabische Vokabeln notierte, die er mir beibrachte. Ich notierte mir Orte, die mir unbekannt waren, Angaben über seine Stationen in der Türkei, in Syrien oder in Ägypten, um dies alles später einmal in Landkarten suchen zu können oder in Lexikas nachzulesen. Das Internet gab es ja zu jenem Zeitpunkt leider noch nicht.
Eines Abends lud mich Mohammed zu sich in die Unterkunft ein und es war das erste Mal, dass ich im Camp der ägyptischen Arbeiter zu Besuch war. Wir saßen draußen vor den Unterkünften, er bot mir Tee an und wir rauchten eine Zigarette. Nach einer Weile bat er mich, ihm von meinem Leben zu erzählen. Es genügte tatsächlich ein einziger Abend, um die Erlebnisse und die wichtigsten Ereignisse meines Lebens zusammenzufassen.
Mohammed versprach mir anschließend, an den kommenden Abenden seine Lebensgeschichte zu erzählen und ich war sehr gespannt darauf, denn es sprach einiges dafür, dass dieser Mann eine Menge erlebt hatte.
Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass Mohammed ein Geheimnis umgab.
Bereits am nächsten Abend ergab sich die Gelegenheit zu einem Gespräch.
Wir setzten uns auf unsere Bank, zündeten uns zwei Zigaretten an und schließlich eröffnete mir Mohammed, dass er mir seine Lebensgeschichte erzählen möchte – eine Geschichte, deren Tragweite mich an jenem Abend und auch an den Abenden darauf sehr erschütterte. Er verriet mir, dass es nicht viel mehr, als eine Handvoll Männer gab, denen er diese Geschichte im Verlauf von neununddreißig Jahren berichtet hatte, und es zeugte von seinem großen Vertrauen zu mir, dass er auch mich in sein Lebensgeheimnis einweihen wollte.
Wir saßen auf der kleinen, wackeligen Bank, zogen an unseren Zigaretten und blickten in den sternenklaren Himmel.
Mohammed wurde seltsam ernst, schaute auf eine unbestimmte Stelle in der Ferne und begann mit seiner tiefen, sanften Stimme zu erzählen. Ich war sofort gebannt und obwohl unser Gespräch auf Englisch geführt wurde, verstand ich jede Einzelheit.
Schon am ersten Abend wusste ich, dass dieser Mann die Wahrheit sagte. Ich spürte das an seinen Emotionen. Er sprach von Orten, von denen ich noch nie in meinem Leben gehört hatte, und von Abenteuern, die so unglaublich klangen, dass sie einfach wahr sein mussten. So etwas konnte sich kein Mensch ausdenken.
Seine Lebensbeichte, die mit einer Messerstecherei begann, als er seinem Vater mit neunzehn Jahren zu Hilfe sprang, zog sich über viele Abende hin und berührte mich tief. Es war für mich fast unvorstellbar, dass dieser Mann, der wie selbstverständlich neben mir saß, diese Fülle an Abenteuern und Schicksalsschlägen überstanden hat, ohne daran zu zerbrechen.
An jenen Abenden grenzenloser Vertrautheit, hatte ich nicht geahnt, dass mich sein spannendes Leben fünfundzwanzig Jahre nach seinen Ausführungen noch immer nicht loslassen, und ich eine Möglichkeit finden würde, um Mohammed auf eine ganz besondere Weise zu würdigen.
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