Die bröseligen Kekse waren die Lieblingssorte seiner Frau gewesen und daher waren sie auch immer in der Schüssel gelegen. Üblicherweise stand die Schüssel auf der Küchenkredenz: immer an der gleichen Stelle, zwischen dem Salzstreuer und der uralten Küchenwaage. Das Spezielle an ihr war der Griff. Ein umbrischer Künstler hatte sich besondere Mühe gegeben, ein originelles Stück zu erschaffen. Der Griff hatte die Form einer Banane und stand auf einer Seite von der Schüssel ab. Weder besonders originell noch praktisch, fand Hausner.
Lachend hatte sie ihren Kopf in den Nacken geworfen und auf diese Schüssel gedeutet. Sie hatte noch um den Preis gefeilscht und sie schließlich erstanden. Erst eine Weile später, in einem kleinen verdreckten Zimmer, in das sie sich auf eine Stunde eingemietet hatten, hatte er verstanden, warum sie gerade diese Schüssel ausgewählt hatte. Er erinnerte sich an den engen Raum, in dem die Hitze so unbeweglich stand wie in einem Backofen. Das schmierige Bettlaken, der schäbige Läufer und der Sessel mit der bereitgestellten Küchenrolle. All das hatte ihm nichts ausgemacht, im Gegenteil, es war Teil des Abenteuers gewesen. Hauptsache, er hatte sie.
Egal wo. Egal wann. Egal wie.
Für das Wie war sie zuständig gewesen. Deswegen hätte er damals sein Leben für sie gegeben. Es war nicht ihr einladender Busen, mit dem sie alle Blicke auf sich zu ziehen verstand, oder ihr Hintern. Auch nicht die auffällige Art, wie sie sich schminkte oder ihr Haar rot färbte. Sie war die erste Frau, die Abwechslung in seinen ewig gleichen Trott brachte. Und sie war die erste Frau, die ihm die Augen dabei verband.
Er würde die Schüssel behalten, dachte er.
Der Polizist räusperte sich, trank einen Schluck Kaffee und biss knackend vom Keks ab. Hausner registrierte ihn kaum. Es hatte immer zwei Packungen gegeben, erinnerte er sich. Eine geöffnete und eine in Reserve. Wie oft hatte er sie in den letzten Jahren wohl für sie geholt? Vielmehr holen müssen. So wie er vieles andere auch für sie hatte tun müssen, dachte er bitter. Damit war nun Schluss. Plötzlich überkam ihn eine Welle der Übelkeit. Er stürzte aus dem Zimmer ins WC und übergab sich. Wenige Minuten später stand er wieder in der Küche und starrte hinaus.
Als er nach dem Verhör heimgekommen war, hatte er nach der Schachtel gegriffen, um sie wegzuwerfen, es aber nicht geschafft. Es war, als hätte sie noch über den Tod hinaus das Anrecht auf die elendiglichen Kekse! Doch nun fand die Packung ihren letzten Weg eben auf natürliche Weise. Er schob dem jungen Polizisten den Rest der Kekse hin. So, dass der Bananengriff direkt auf die Uniform zeigte. Sollte der doch alle aufessen. Ihm hatten sie sowieso nie geschmeckt. Zu trocken.
Das Handy des jungen Polizisten läutete.
„In 20 Minuten, also um halb drei?“, fragte er ins Telefon.
Franz Hausner beobachtete, wie die Hand des Polizisten die Banane umschloss und die Schüssel zu sich zog.
„Dauert noch“, gab das Milchgesicht dann ihm gegenüber mit einer entschuldigenden Bewegung der Schultern zu verstehen.
Hausner schloss die Augen und war wieder in dem schäbigen Zimmer in Umbrien. „Franz, nimm endlich die Schüssel, stell sie dir auf den Bauch und halt sie mit beiden Händen“, hörte er Dorothea sagen. Mit aller Kraft hatte er also die Schüssel gehalten, während sie auf ihn kletterte. Dabei riss sie sich die Kleider vom Leib, nahm ihn mit ihren Oberschenkeln in die Zange, führte sich den Griff vorsichtig ein und wand sich mit kreisenden Bewegungen ihres Beckens um ihn herum. Rhythmisch und immer wuchtiger, bis sie kam.
Ein leises „Krck“ holte Franz Hausner wieder in die kleine Küche zurück. Das Milchgesicht hatte gerade zugebissen, nahm nun das letzte Keks aus der Schüssel und hielt es mit fragendem Blick in die Höhe. Er nickte matt. Als nächstes würde er ihre Kleider weggeben.
„Sie sind aufgehalten worden“, entschuldigte sich der junge Polizist noch einmal.
„20 Minuten“, wiederholte Hausner und stand auf. Ohne den Bananengriff zu berühren, nahm er die Schüssel in die Hand und ging damit zum Abfallkübel. Nicht einmal Brösel sollten von ihr übrig bleiben.
*
Orsini stellte den Wagen mit den beiden linken Reifen auf dem Gehsteig in der Zeleborgasse ab. Die Stoßstange des Autos berührte beinahe die alte Litfaßsäule vor ihnen.
„Super eingeparkt“, bemerkte Kubicek und schob die amtlich bestätigte Parkerlaubnis auf die Ablagefläche unter der Windschutzscheibe.
„Nette Gegend, hässlicher Zweckbau“, bemerkte Orsini, als sie über die breite Fußgängerzone der Meidlinger Hauptstraße auf das Haus zugingen.
„Warum, was meinst du?“, fragte Kubicek verwundert und blickte die Fassade entlang nach oben. Es war ein unscheinbares, vierstöckiges Haus. Die altersgraue Fassade war in der Mitte durch ein Mosaik aufgelockert, das zwei muskulöse Arbeiter zeigte. Im ersten Stock saßen zwei rosa Stoffraben in einem Fenster. Kubicek drückte die Klingel. Orsini aber öffnete gleichzeitig mit dem Generalschlüssel die Haustür, ohne auf das Summen des Türöffners zu warten, und beschloss, zu Fuß zu gehen. Mit Kubicek in einer engen Kabine zu stehen, hätte er in dem Moment nicht ertragen.
Die Wohnungstür oben im dritten Stock stand offen.
„Hat länger gedauert“, sagte Orsini, trat ins enge Vorzimmer und sah um sich.
„Was suchen Sie eigentlich noch?“, wollte Franz Hausner wissen. „Ihre Kollegen waren doch sowieso schon den ganzen Vormittag da! Ich hätte gerne irgendwann meine Ruhe!“
„Alles Mögliche“, antwortete Kubicek frech und drängte sich an Orsini vorbei. „Wo hat Ihre Frau ...?“
„Es tut mir leid, das ist reine Routine“, erklärte Orsini beschwichtigend.
Hausner seufzte. „Wir haben uns die Wohnung geteilt. Wie Sie sehen, ist sie nicht allzu groß. Vorraum, Küche, Wohnzimmer und Schlafzimmer. Mehr ist es nicht.“
„Verstehe. Aber sie hatte doch sicher ihren eigenen Bereich?“
„Der Tisch in ..., in unserem Schlafzimmer.“
„Ein Abschiedsbrief?“
Franz Hausner schüttelte stumm den Kopf.
„Na gut“, sagte Orsini, „am besten fangen wir im Wohnzimmer an.“
„Muss ich dabei sein?“, fragte Hausner.
„Nein, nicht unbedingt. Wenn wir Fragen haben, rufen wir Sie. Außerdem brauche ich noch Fotos, von Ihnen und Ihrer Frau.“
„Gut, ich schau einmal und warte dann in der Küche.“
Orsini folgte Kubicek ins Wohnzimmer. Es sah aus wie von einem Prospekt einer Billigmöbelkette ins Zimmer hineinkopiert.
„Nicht übel“, stellte Kubicek fest. „Ein Zebrafell dazu und es würd meinen Geschmack treffen.“
„Ein Zebrafell dazu und mir wird schlecht“, meinte Orsini und ging zum Wandregal. Dort zog er vorsichtig eine der vielen Schallplatten heraus, die sich darin ordentlich aneinanderreihten. Der Gefangenenchor aus Verdis Nabucco, las er und stellte sich für einen Augenblick Kubicek in der Gefangenenkluft der Opernsänger, vor allem aber hinter Gittern vor. Abgesehen davon gab es eine – relativ kurze – Reihe an Büchern, Zeitschriften und Nippes, das Sofa war von Pölsterchen und Plüschtieren bevölkert, an der Wand hingen nichtssagende billige Fotografien. Das Zimmer war aufgeräumt und ordentlich, alles hatte seinen Platz.
„Keine Glasscherben, keine Pornos. Im Schlafzimmer wird’s sicher interessanter“, grinste Kubicek und ging voran.
Orsini folgte ihm und fragte in die Küche hinein: „Das Handy Ihrer Frau ...?“
„Ja, was ist damit?“, antwortete Hausner und stand abrupt von seinem Sessel auf.
„Wo könnte es sein?“
„Keine Ahnung. Was gefunden?“, fügte er noch an, doch Orsini war bereits Richtung Schlafzimmer unterwegs, wo er beinahe mit Kubicek zusammenstieß.
„Na, nicht schlecht, ich scheiß mich an“, stieß Kubicek hervor.
Читать дальше