Sie blickte zu ihrem Banknachbarn Armin Ennsner hinüber und nickte. Er war durchaus attraktiv, fand sie, sportlich, braun gebrannt und immer sehr hilfsbereit. Sie hatte ihm das Buch über die Entwicklung der Spurensicherung geborgt, er wiederum lieh ihr des Öfteren Mitschriften, wenn sie es zu den Vorträgen nicht schaffte. Das Thema DNA-Profiling hatte sie durchaus spannend gefunden, doch wie dieser erste Fall gezeigt hatte, ohne eine gute Vernehmungstechnik und vor allem ohne Kommissar Zufall wüsste man heute noch nicht, wer die 15-Jährige aus Enderby getötet hatte.
Kleines oder großes G?, sandte sie zurück, ohne beim Vortrag den Faden zu verlieren. Der Gmoa-Keller war berühmt für sein Gulasch, auch wenn die legendären Vorbesitzerinnen nicht mehr den Laden führten und nun ein modernes Schüttbild die hintere Wand des früher ziemlich versifften, aber ursprünglichen Beisls zierte. Allgemein wurde angenommen, es sei ein echter Nitsch, der tatsächliche Künstler hieß aber Wulf Bugatti. Paula war als Kind einige Male mit ihrem Onkel dort gewesen und hatte die mürrische Selbstverständlichkeit, mit der die beiden alten Damen ihr Publikum endlos hatten warten lassen, nie vergessen.
Der Profiler war mittlerweile bei einem seiner letzten Einsätze gelandet, einem Fall von internationaler Dimension. Er war offensichtlich stolz, zumindest ein Mal etwas verhindert zu haben, anstatt dem Verbrechen immer nur hinterherzuhecheln. Das konnte Paula nur allzu gut nachvollziehen. Eine Zeit lang hatte es sie durchaus mit Befriedigung erfüllt, hin und wieder Verbrecher einzulochen. Abgesehen davon, dass der Dienst als Streifenpolizistin größerenteils mit banalen Einsätzen, Wache schieben und Berichte schreiben zu tun hatte. In den letzten Jahren allerdings war sie der Sache zunehmend überdrüssig geworden.
Groß, lautete Armins Antwort, während der Profiler über die häufigste Todesursache bei Prostituierten referierte: An erster Stelle lagen Angriffe gegen den Hals, an zweiter Erstechen.
Paula lächelte. Armin Ennsner schien jedenfalls nicht der Appetit vergangen zu sein.
*
Direkt vor dem Beethovenplatz parkte Orsini ein. Ein Polizeiwagen stand mitten auf dem kleinen Platz. Beethoven starrte das Auto von oben herab an, als wollte er es am liebsten mit einem Fußtritt entfernen. Es war elf Uhr, und schon stach die Sonne herunter.
„Nicht einmal ein Fahrzeug mit funktionierender Klimaanlage können wir uns leisten“, nörgelte Kubicek und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Dann stieg er aus.
„Du siehst dich in den umliegenden Häusern um“, gab Orsini ihm Order, ohne auf ihn einzugehen.
„Das Gymnasium auch? Da ist in der Nacht sicher niemand ...“
Orsini bemerkte den unwilligen Ton. „Der Portier genügt“, erwiderte er und sah Kubicek nach, wie er auf den Eingang des Gymnasiums zuging. Dahinter büffelt die neue Elite, dachte er und musterte die neugierigen Gesichter hinter den Fensterscheiben. Er ließ seinen Blick über die Hauptfassade des im neogotischen Stil gehaltenen Backsteinbaues schweifen. In der Nacht hatte das Bauwerk etwas Bedrohliches, Abweisendes an sich gehabt, wie ein Mahnmal einer übermächtigen Gewalt. Bei Tageslicht war es einfach ein schönes, altes Gebäude.
Weit oben reihten sich die Wappen der Kronländer der österreichisch-ungarischen Monarchie aneinander. Unten im Park – Orsini inspizierte den Boden – war von kaiserlich-königlich keine Rede. Es hätte der jungen Elite gar nicht geschadet, wenn sie hin und wieder dazu verdonnert würde, den Müll, den vermutlich sie in ihren Pausen dort hinterließ, auch wieder zu entfernen, dachte er, ging die Treppe zur gläsernen Portierkabine der Tiefgarage hinunter und öffnete die Tür.
Der Raum war keine fünf Quadratmeter groß. An einer grauen Schrankwand klebte ein Schwarzweißausdruck einer Büste Beethovens mit dem Logo des Parkhauses darunter. Aus den Lautsprechern eines zur Einrichtung passenden tragbaren CD-Players dröhnte klassische Musik. Der Herrscher der Kabine war ein etwa 50-jähriger rundlicher Mann. Er war frisch rasiert, trug ein violettes T-Shirt zu dunkelblauer Hose und schien schwer beschäftigt mit der Lektüre einer Zeitschrift. Auf der Nase thronte eine Lesebrille, vorne im Ausschnitt des Shirts steckten noch weitere Brillen, deren Verwendung angesichts des weitläufigen Arbeitsplatzes bestimmt unheimlich wichtig war.
Nachdem Orsini sich vorgestellt hatte, unterbrach der Parkhauswärter hastig die Lösung seines Kreuzworträtsels, erhob sich und streckte ihm die Hand hin. „Krischanitz der Name, immer zu Diensten, Herr Kommissar!“
Ein bisschen k. u. k., schmunzelte Orsini. „Könnten Sie den leiser drehen?“, fragte er mit Blick auf den CD-Player.
„Aber sicher! Tschuldigung!“ Der Wächter schob sich die Lesebrille auf die Stirn und deutete auf einen kleinen Monitor. „Bin vollstens im Bild“, fuhr er fort und setzte sich eine andere Brille auf.
„Genau, deswegen bin ich hier. Wie viele Kameras sind denn installiert?“
„Außen nur eine – Sparmaßnahmen, leider. Innen sind’s drei, in jedem Stock eine.“
„Gut, dann zeigen Sie mir die Aufzeichnung von der Außenkamera.“
„Natürlich, sofort, Herr Kommissar!“
„Bei uns heißt das Inspektor“, erwiderte Orsini gutmütig und stellte sich schräg hinter Krischanitz’ Sessel, um den Bildschirm zu sehen. „Wie lange wird denn gespeichert?“
„Immer 24 Stunden, Herr Inspektor! Danach wird glöscht.“
„Okay, also dann auf 22 Uhr, wenn’s geht!“
„22 Uhr, bitteschön: Und Start!“ Offensichtlich gefiel es ihm, einmal etwas anderes zu tun, als Parkhausmieten zu kassieren. Während nun auf dem Monitor ein Bild erschien, das den Ausgang und ein Stück des Beethovenplatzes Richtung Lothringerstraße zeigte, fragte Orsini: „Wie lang haben Sie denn gestern Dienst gehabt?“
„Bis 18 Uhr, Herr Inspektor.“
„Und, ist Ihnen etwas Außergewöhnliches aufgefallen?“
„Leider ...“ Krischanitz schüttelte den Kopf und starrte mit ernsthafter Miene auf den Bildschirm.
Um 22 Uhr war der Asphalt noch trocken gewesen, sah Orsini. Nur die sich leicht hin und her bewegenden Blätter an den Bäumen ließen erkennen, dass es sich nicht um ein Standbild handelte. Eine ganze Weile tat sich kaum etwas. Beethoven hatte sich keinen besonders belebten Platz für die Ewigkeit ausgesucht. Hin und wieder sah man einzelne Personen oder Autos im Bild. Rasch teilte er den Wächter dazu ein, alle Zeitpunkte genau zu notieren und dazwischen auf schnellen Vorlauf zu schalten. Jedes Mal, wenn er zwischen Bildschirm und Notizzettel wechselte, wechselte er auch die Brille. Vor lauter Konzentration streckte er die Zunge zwischen den Lippen hervor, einem blau-violetten Frosch gleich, der auf die nächste ahnungslose Fliege wartete.
„Jetzt beginnt das Gewitter“, stellte Orsini endlich fest, „Uhrzeit?“
„Null Uhr, 18 Minuten.“
Durch die Zweige fuhr plötzlich ein heftiger Windstoß. Längliche, helle Schlieren durchzogen das Monitorbild.
Bedächtig kritzelte Krischanitz die Uhrzeit auf den Block. „Soll i eigentlich auch Spalten und Linien machen?“
„Ausgezeichnete Idee“, antwortete Orsini und konzentrierte sich wieder auf den Bildschirm. Es kam ihm vor wie ein Experimentalfilm: Verschwommene Gestalten bewegten sich durchs Bild, die Äste des Baumes bogen sich wild im Wind, Zweige brachen entzwei und flogen durch die Luft, Blitze erhellten den Platz. Je mehr Wasser auf die Kamera prasselte, desto weniger real wurde die Szenerie. Dennoch konnte man schließlich eine größere Aktivität erkennen. Menschen liefen über den Platz, genauso wie es die Zeugin beschrieben hatte. Dass Dorothea Hausner zu dem Zeitpunkt gerade um ihr Leben kämpfte oder aber die Tortur schon hinter sich hatte, blieb im Verborgenen.
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