„Was anhören?“
„Gleich ...“
Zobl schüttelte verständnislos den Kopf und hielt ihm die Tür zu seinem Büro auf. Wilasich war offensichtlich gerade angekommen. Er hängte seine abgenutzte dunkelblaue Wachsjacke über den Stuhl und grüßte verschlafen. Sykora hatte es sich hingegen längst auf dem Sofa gemütlich gemacht und umklammerte eine Tasse mit grünem Tee.
„Wo ist Kubicek?“, fragte Orsini.
In dem Moment ging die Tür auf und Viktor Kubicek schob einen klapprigen Drehstuhl herein. „Morgen!“, warf er zackig in die Runde, rollte den Stuhl in die Mitte des Raumes und setzte sich. Er war ein stiernackiger, kompakter Typ, trug meist Anzug und Krawatte – wenngleich nicht die allerneueste Mode – und versteckte darunter geschickt den eher korpulenten Bauch. Im rechten Ohr steckte ein kleiner silberner Stern. Er war relativ neu in Orsinis Gruppe, wurde genauer gesagt ein wenig von Abteilung zu Abteilung hin und her gereicht und musste sich derzeit mit einem winzigen Kämmerchen am Ende des Gangs zufriedengeben.
Nachdem Orsini und Zobl alle auf den neuesten Stand gebracht hatten, was die nächtlichen Ereignisse anlangte, sah Orsini in die Runde und fixierte Kubicek für einen Augenblick. „Was ich euch jetzt sage, bleibt einstweilen unter uns.“
Viktor Kubicek schob das Kinn nach vor. Er hatte die unangenehme Angewohnheit, sich immer und überall zu räuspern. Manchmal kurz und leise, manchmal laut oder auch mit einer ordentlichen Portion Spucke, die er im Freien gern jemandem demonstrativ vor die Füße schoss.
„Es gibt Grund zur Annahme, dass es vor einiger Zeit ein ähnliches Verbrechen gegeben hat“, fuhr Orsini fort und griff nach Pokornys Mappe.
Elvira Zobl nahm sie ihm ab und sah ihn dabei ein wenig vorwurfsvoll an. „Und warum erfahren wir das erst jetzt?“
„Weil ich bis jetzt zur Verschwiegenheit verpflichtet war.“
„Versteh ich nicht“, sagte Kubicek und räusperte sich abermals.
„Am 22. April hat es einen Selbstmord am Karlsplatz gegeben ...“
„Einen Selbstmord?“, äffte Kubicek ihn nach.
„... von dem wir vermuten, dass es keiner war“, antwortete Orsini unbeeindruckt und begann, den Fall der toten Gelegenheitsprostituierten Margarete Bauer zu schildern.
„Und das einzige Beweisstück liegt in einer Urne“, folgerte Elmar Sykora am Ende der Ausführungen mit beinahe fröhlichem Ton und goss sich dabei Tee nach.
„Ein Gehirnakrobat“, murmelte Kubicek.
Orsini verzog gequält den Mund.
Elvira Zobl blickte von der Mappe hoch, in der sie geblättert hatte. „Am Tatort, oder besser am Fundort“, sie sah Kubicek kurz an, „war es der Kollege Gottschlich, der die Sache als Selbstmord eingestuft hat. Sehe ich das richtig?“
„Steht so im Protokoll“, antwortete Orsini.
„... ein ziemlich blutleerer Selbstmord, was die Fläche rund um die Leiche angeht.“
„Genau.“
„Keine sehr genaue Ermittlung in dem Fall ...“
„... war ja nur eine Drogensüchtige.“
„Du glaubst also, dass es weitergehen wird?“
Orsini nickte. „Ich befürchte es zumindest.“
„Ist das nicht voreilig?“, wandte Kubicek ein und rollte samt Stuhl zu Elvira Zobl, um sich die Akte anzusehen.
„Von wie vielen in Wiener Parks mit einer Glasscherbe begangenen Gewaltdelikten hast du bis jetzt gehört?“, antwortete Wilasich, der ansonsten noch kein Wort gesprochen hatte.
Kubicek zuckte mit den Schultern und riss die Hände in die Höhe. „Das muss nichts heißen. Diese ...“, er blätterte im Akt, „Margarete Bauer kann sich ja trotzdem umgebracht haben, und das Blut ist versickert.“
Zobl verdrehte die Augen und blickte seufzend zu Wilasich.
„Er hat nicht ganz unrecht“, wandte Orsini ein. Dass Kubicek zeitweise unerträglich war, änderte nichts an der Tatsache, dass er zumindest hin und wieder ins Schwarze traf. „Solange wir keinen gesicherten Beweis für einen Mord an der Drogensüchtigen haben, müssen wir beide Möglichkeiten in Betracht ziehen.“
„Und diese Attacken vor ...“, hakte Elvira Zobl nach.
„... zehn Jahren“, ergänzte Orsini, „könnten theoretisch damit zusammenhängen.“
„Aber nach so vielen Jahren, das ist doch mehr als ungewöhnlich!“, gab sie zu bedenken.
„Mir ist völlig klar, dass wir es mit Konjunktiven zu tun haben, aber mehr kann ich euch leider nicht anbieten. Ich will nur, dass jeder Einzelne von euch diese Hinweise ernst nimmt.“ Orsini blickte in die Runde. „Was die weitere Vorgangsweise angeht, konzentrieren wir uns natürlich auf den aktuellen Fall. Elvira, du überprüfst die Angaben Hausners – vor allem, ob er beweisen kann, dass er tatsächlich die ganze Nacht in der Firma war – und sprichst noch einmal mit der Zeugin. Vielleicht fällt ihr ja noch etwas ein. Viktor und ich übernehmen die Häuser rund um die Fundstelle und die Karibik. Es gibt zumindest eine installierte Videokamera.“
Elmar Sykora rührte indessen zufrieden in seiner Teetasse um, denn nun blieb nur mehr der Innendienst über.
„Kurt, du übernimmst die Koordination mit der Tatortgruppe, sie sollen das Auto und gleich danach die Wohnung der Hausners untersuchen. Die müssen dort möglichst bald anfangen!“ Orsini sah Wilasich mit vielsagendem Blick an. „Am besten, du rufst direkt den Lehner an ...“
Wilasich nickte.
„Außerdem müssen alle Dienststellen informiert werden, die in ihrem Gebiet einen Park haben, dass sie ...“
„... unauffällig öfter Runden gehen sollen“, ergänzte Wilasich, „was aber nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein kann ...“
Orsini zuckte die Achseln. „Elmar, du widmest dich der Rufdatenermittlung. Wir müssen wissen, ob Hausner tatsächlich sein Handy zu Hause hat liegen lassen, und vor allem, ob seine Frau mit ihm telefoniert hat.“
„Warum ist das wichtig?“, fragte Sykora.
„Weil ich das Gefühl habe, dass er uns in dem Punkt belogen hat.“
„In Ordnung.“
„Außerdem unterstützt du Kurt.“
Sykora verzog das Gesicht.
„Dafür musst du nicht raus“, konnte Orsini sich einen kleinen Seitenhieb – besonders angesichts des strahlenden Sonnenscheins – nicht verkneifen.
*
Obwohl es in der Nacht geregnet hatte, war die Luft im Vortragssaal der Sicherheitsakademie warm und beinahe unerträglich stickig. Dennoch waren alle 32 Augenpaare aufmerksam auf den Vortragenden gerichtet. Diesmal hatte Paula Kisch kein Buch unter der Bank. Eine halbe Stunde lang hatten sie nun schon Fotos von zerstückelten Leichen und bei lebendigem Leib aufgebohrten menschlichen Köpfen studiert. Einigen der Kollegen sah man das auch an. Denjenigen, die sich noch am Vortag über das Thema lustig gemacht hatten, blieben die Späße nun beim Anblick der brutal geschändeten Körper im Hals stecken.
Den ganzen Tag würden sie noch einem der bekanntesten Profiler Europas ungestört zuhören können oder müssen, je nachdem, wie man es sah. Dies war Teil ihrer kriminaldienstlichen Ausbildung. Paula jedenfalls fand ihn hochinteressant. Wenn er seine Augenbrauen bewegte oder die Augen zu schmalen Schlitzen zusammenkniff, wirkte er eher wie ein angriffslustiger schlauer Fuchs. Sie konnte sich gut vorstellen, dass Verbrecher ihm Respekt zollten. In seinem Vortrag war er nun bei den Biografien von Sexualverbrechern gelandet, betonte, dass sich diese besonders im Bezug auf die Kindheit erschreckend ähnelten, und spannte dann den Bogen locker mithilfe eines Zitats von Nietzsche hinüber zum Innenleben des erwachsenen Triebtäters. Er hatte so viel zu sagen und sah einen dabei so eindringlich an, dass man selbst beim Zuhören kaum in Ruhe Atem holen konnte.
Paula sah in die Runde und holte dann ihr Handy hervor. Sie hatte ein SMS bekommen. Um eins im G-Keller?, stand da.
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