»Was macht ihr hier?«, fragte Aynur, wie unsere Aufseherin hieß, den großen Langhaarigen, auf dessen Gesicht, Schultern, Oberkörper und Mund ich gerade noch meine Lippen gepresst hatte, bevor ich vor Schreck, als ich sie nahen hörte, darum bemüht war, mich zu entziehen, was er mir jedoch nicht erlaubt hatte. Deshalb musste ich genau so verharren, wie ich war, nackt und in seiner Umklammerung.
»Was?«, schrie sie nun.
Ich kauerte nach wie vor furchtsam vor ihr und klammerte mich an meine Seiden. Welch armseligen, unerheblichen Schutz boten sie in dieser Situation für meine Scham!
»Was tut ihr hier?«, drängte sie abermals.
Mir graute vor Aynurs aufbrausender Natur, obgleich ich sie schon zuvor so erlebt hatte. Sie schien vor Rage fast neben sich zu stehen. Ich hoffte darauf, dass ihr entgangen war, wie ich den Fremden geküsst hatte. Das wäre wirklich übel; es durfte nicht sein! Dazu muss man verstehen, dass ich einfach genommen und benutzt werden sollte, ohne meine Zustimmung, völlig gegen meinen Willen. Besser, ich gab vor, die Angelegenheit geschmacklos zu finden, lieber Desinteresse heucheln und nicht zeigen, dass es mir gutgetan hatte. Unsere Leidenschaft wurde zumindest theoretisch und in den Gärten reguliert, weil sie zur Gänze demjenigen vorbehalten war, der die Vollmacht über uns besaß. Allerdings weiß ich bis heute nicht, wer so etwas ernsthaft glaubt. Man macht uns zum alleinigen Eigentum der Männer, sodass wir jederzeit unseren Besitzer oder Halsreif wechseln mögen, und tun so, als sei unsere exklusive Leidenschaft quasi ein Kaufargument. Das ist doch absurd. Von Dirnen in Tavernen und Bordellen erwartet man gewiss nicht, dass sie diesem Mythos gerecht werden. Müssen nicht auch wir in den Gärten bisweilen für andere zur freien Verfügung stehen, so, wie es derjenige, der die absolute Macht über uns hat, in seiner Schläue beziehungsweise Freimütigkeit entscheidet? Und falls wir nicht zufriedenstellend oder zugänglich genug waren, was man objektiv anhand unserer Körperreaktion bewerten konnte, wird man uns dann nicht schwer bestrafen oder sogar umbringen? Bedient man sich unserer zum Beispiel nicht auch häufig dazu, die Geschicke derer zu verbessern, die uns besitzen, weil unsere Schönheit etwa Speisesälen zur Zierde gereicht oder unser Tun – Auftragen und Unterhalten, bisweilen an Ketten zwischen den Tafeln – das Essen umso schmackhafter macht? Erwartet man nicht von uns, dass wir uns dankbar, diensteifrig und authentisch, was immer sorgfältig geprüft wird, in Fesseln rekeln? Nein, uns zu befehlen, nichts zu fühlen und unser Selbst zu leugnen, ist zu viel verlangt. Genauso könnte man unschuldiges Stroh, das in Öl getränkt wurde, dafür verdammen, dass es im Nu in Flammen aufgeht, sobald man eine Fackel daran hält. Als das, was wir sind, unterstehen wir der Gnade aller Männer. Man sehe es uns nach. Ich musste nun vorgeben, dass ich nichts gefühlt hatte. Man tut besser daran, den Anschein, an den Mythos zu wahren. Dies ist wichtig. Ich ging davon aus, dass Aynur nicht beobachtet hatte, wie und in welcher Position ich ihn küsste. War sie dem Mythos selbst ergeben? Ich hoffte es inständig.
»Was ist hier los?«, rief sie abermals mit schriller Stimme, doch er antwortete nicht.
»Ich werde die Wachen rufen!«, drohte sie.
Ich war naheliegenderweise überrascht, dass sie dies nicht schon längst getan hatte. Aynur strafte mich mit einem hasserfüllten Blick. Ich wusste, dass sie mich nicht mochte, aber dieser Ausdruck war entsetzlich. Ich hatte noch nie erlebt, wie sie jemanden so angesehen hatte. Vor Schreck schaute ich schnell nach unten, fühlte mich klein und verwundbar, wie ich im Gras des Gartens hockte und mich an meiner Seide festhielt.
»Der Garten ist Privateigentum«, sagte Aynur zu dem Fremden. »Du hast keine Befugnis, ihn zu betreten! Du solltest nicht hier sein.«
Er ging immer noch nicht auf sie ein.
»Du besitzt nicht das Recht, dich hier aufzuhalten«, fuhr sie fort. In ihrer Stimme schwangen Entrüstung, Wut und Ärger mit.
Doch er schaute sie bloß an.
Ich hörte das Plätschern des Brunnens. Die Ruhestunde war vorüber.
Den anderen Mädchen hatte man offensichtlich nicht gestattet, in den Garten zurückzukehren; vielleicht hatten sie aber auch von sich aus, in weiser Voraussicht, davon abgesehen.
Mir war Aynurs Benehmen ein Rätsel. Sie hatte einen Unbekannten im Garten ertappt und war dennoch nicht weggerannt. Woher wusste sie, dass er nicht hier war, um Obst zu sammeln oder Blüten zu pflücken.
Wieso war sie sich so sicher, dass er sie nicht angreifen und packen, knebeln und an Händen und Füßen fesseln würde, um sie zur Mauer zu tragen? Dass sie nicht derart verschnürt, in einem Netz zappelnd oder an einer Leine, von Helfershelfern oben auf die Mauer gehievt würde, um sie von dort auf die Ladefläche eines Wagens zu stoßen, der voller Heu auf der anderen Seite stand. Dort mochte sie ein anderer Scherge ungesehen festhalten, derweil das Gefährt davonrollte. Ich verstand ihr Benehmen nicht. Sie war weder geflohen noch zu den Wachen geeilt.
Sie musste diesen Mann kennen.
Ich hob den Kopf ein wenig an, wobei sich unsere Blicke eine Sekunde lang begegneten. Dann widmete sie sich erneut dem Fremden. Ihre Raserei, ihr Zorn galt in erster Linie ihm. In dem Moment, da ich ihr in die Augen geschaut hatte, war mir klar geworden, dass sie mich als nebensächlich erachtete. Ich hatte erkannt: Ich bedeutete nichts für sie, aber ihr Blick stellte auch in Aussicht, dass sie sich meiner später annehmen würde.
Der Fremde schien keine Angst vor Aynur zu haben.
Vielleicht kannte man ihn im Haus, wie er behauptet hatte, obwohl ihm dies sicherlich nicht gestattet hätte, den Garten ohne Einladung zu betreten und seine Freuden, unerlaubt auszukosten.
Anhand von Aynurs Gebaren wurde ersichtlich, dass er keine Befugnis dazu hatte.
Wünschte sie sich, er hätte statt meiner sie hier angetroffen?
Warum hatte ich mich ihm nicht widersetzt, weshalb hatte ich nicht die Wachen verständigt?
Das wollte Aynur bestimmt in Erfahrung bringen.
Sie durfte nicht herausfinden, dass ich zur Mauer geschlichen war!
Deshalb hatte ich keinen Alarm geschlagen, eben weil ich dorthin gegangen war. Diese Tatsache hatte ihm, den sie hier nicht kannten, solche Macht über mich verschafft, abgesehen davon, dass jemand wie er natürlich gewissermaßen unabhängig uneingeschränkt über eine wie mich verfügen konnte.
Vorhin hatte dies aber nicht zugetroffen. Ich hatte mich recht schnell meiner Seiden entledigt und relativ bereitwillig gehorcht. Seine Hände auf mir zu spüren und in seinen Armen zu liegen, war mir ein Bedürfnis gewesen. Meinesgleichen gehörte seinesgleichen, und im Garten fühlte ich mich einsam unter den Blumen, die zwar wunderschön waren, aber bedeutungslos und für sich genommen, unvollständig. Zu selten schenkte uns ein Wachmann seine Aufmerksamkeit; zu selten mussten wir im Haus für Zerstreuung sorgen; so gut wie nie gehörte ich zu jenen Blumen, die dazu auserkoren wurden. Wenn Aynur ihre Wahl traf, wies sie mich fast immer ab, während wir alle hoffnungsfroh, hübsch und aufgeregt in einer Reihe knieten, parfümiert und mit Schmuck behangen, geschminkt und in Seiden gehüllt. Dann musste ich diese Dinge wieder ausziehen und mich an meiner Matte zurückmelden. Ich hielt mich nicht für weniger anmutig als die anderen Blumen und hätte mich bestimmt als Trägerin für Tablette oder Weinkaraffen geeignet. Ich erinnerte mich daran, dass mich einige Männer nicht unattraktiv gefunden hatten. Manchmal kam es mir beinahe so vor, als sei ich keine Blume, zumindest nicht im gleichen schlichten, unschuldigen Sinn wie die übrigen, sondern etwas deutlich anderes. Fast schien es, als sei ich nicht als Blume, sondern in anderer Funktion wert, in diesem Garten gehalten zu werden. Ich fühlte mich wie versteckt, obwohl dies ja auf uns alle zutraf. Eigentlich war keine hier für die Augen von jedermann bestimmt, sondern nur den Angestellten desjenigen vorbehalten, der das alleinige Recht an uns besaß, sowie anderen mit seiner Erlaubnis.
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