Zuletzt konnte ich seinem Blick nicht mehr standhalten und ließ beklommen den Kopf hängen.
Daraufhin verließ er den Garten, sodass ich mit Aynur, Tima und Tana allein zurückblieb.
Aynur sprang wutentbrannt auf, sobald sie sichergehen konnte, dass er nicht mehr da war. Die beiden anderen taten es ihr gleich, während sie nachschaute, welchen Weg er genommen hatte. Wie es schien durch unsere Quartiere und die äußeren Tore, welche diese abschlossen, dann über die Hauptsäle des Hauses bis zum Eingangsbereich. Mittlerweile war er wahrscheinlich schon wieder auf der Straße. Man hatte mich mit einer Kapuze hergebracht, also war mir die Stadt bislang vorenthalten geblieben – eine recht große, wie ich annahm. Nicht einmal die Straße hatte ich gesehen, aber dort herrschte besonders in den frühen Morgenstunden reger Verkehr, soweit ich wusste. Im Übrigen tappten viele der Blumen wie ich im Dunkeln und waren wohlbehütet. Wir fragten uns, wie die Welt auf der anderen Seite der Mauer aussah. Manchmal machte uns dies auch Angst, vor allem wenn wir Peitschen knallen hörten und dann Schmerzensschreie von unseresgleichen vernahmen. Mitunter bekamen wir auch mit, wie sie wehklagten, mit ihren Ketten klapperten und mit der Peitsche gezüchtigt wurden. Letztlich vernahm man sogar Wutgeschrei, gefolgt vom Zischen des Werkzeugs sowie erschöpftem, gequältem oder angestrengtem Ächzen, wiederum aus dem Munde von Mädchen wie uns. Diese Äußerungen mischten sich unter das Knirschen von Zügeln, die sich abwechselnd spannten und erschlafften, das Knarren schwer beladener Karren und ihrer großen Holzräder, die langsam über das Pflaster rollten. Zu solchen Zeiten, das kann sich der Leser bestimmt leicht vorstellen, wechselten wir, fragile, verhätschelte Schönheiten in dünner Seide und mit goldenem Halsreif, innerhalb der Gartenmauern angstvolle Blicke. Unsere Leben wären draußen eindeutig anders verlaufen. Bisweilen war ich gar dankbar für unsere Wachen und den hohen, stabilen Wall, der uns sicher umgab. Davor traten allzu offensichtlich Bedrohungen und furchteinflößende Schwierigkeiten auf. Diese ließen mich keinesfalls kalt, sondern verstörten mich vielmehr, wenn ich auch im Großen und Ganzen sehr gerne nach draußen gelangt wäre. Lieber hätte ich mich aufreizend in einer Schenke präsentiert, wäre im Gefolge einer Armee getrottet oder unter ständig drohender Peitsche vor den Pflug eines Bauern gespannt worden als in diesem Garten zu darben! Wenn ich schon als Blume gesehen wurde, so wollte ich auf freiem Felde oder zwischen Pflastersteinen blühen, aber nicht hier. Ich wollte draußen sein, wo ich etwas sehen und jawohl – gesehen werden – konnte, wo ich aktiv und für alle deutlich sein durfte, was ich war, dienend und liebend. Besser ein Stahlhalsreif auf der Straße als einer aus Gold in diesem Garten!
»Ich werde die Wachen rufen«, ereiferte sich Aynur, aber es war eine hohle Drohung.
Es sei erwähnt, dass sie, Tima und Tana ihrer Autorität und Wichtigkeit im Garten zum Trotz immer noch den Wachleuten mit dem niedrigsten Rang unterstanden. Auch sie waren in letzter Konsequenz »Blumen« und wichtiger noch Frauen, die Wachen hingegen Männer.
Ich fragte mich, weshalb Aynur sie nicht verständigte.
Plötzlich schöpfte ich Verdacht: Sie kannte diesen Mann!
Sie zeigte auf die gefürchtete Rute zu ihren Füßen, woraufhin Tana rasch in die Hocke hing und sie aufnahm. Dann hob sie die Waffe mit demütig gesenktem Kopf hoch, damit Aynur sie entgegennahm. Tana stand auf und stellte sich mir gemeinsam mit den anderen beiden entgegen. Mein Seidenteil lag neben meinem rechten Knie im Gras.
»In Position!«, befahl Aynur. »Kopf hoch!«
Jetzt kniete ich in der Haltung vor ihnen, die sie mir befohlen hatte. Ich stand große Nöte aus, wollte mir aber nichts anmerken lassen.
Eigentlich sollte ich nicht auf diese Weise vor solchen wie ihnen knien. Es war nicht so, dass sich diese Haltung nicht für mich schickte, im Gegenteil: Sie war absolut korrekt und meiner gerecht, aber eben nicht im Angesicht von Frauen wie ihnen.
»Gail war ungezogen«, sagte Aynur.
»Nein«, widersprach ich.
»Was?«, fragte sie.
»Ich war nicht ungezogen«, erwiderte ich.
»Wer war nicht ungezogen?«, hakte sie nach.
»Gail war nicht ungezogen«, präzisierte ich.
»Dann berichte nun, was genau geschah«, verlangte Aynur.
»Ich war im Garten«, hob ich an.
»Während der Ruhezeit?«, unterbrach sie mich sofort.
»Jawohl.«
»Was hattest du zu dieser Stunde hier verloren?«, bohrte sie weiter. »Warum lagst du nicht auf deiner Matte?«
»Ich war nicht müde«, gab ich an. »Ich wollte mir nur die Beine vertreten.«
»Aber es galt, Ruhe zu wahren«, erinnerte sie mich.
Da schwieg ich. Sich während der Ruhezeit im Garten aufzuhalten, war nicht verboten, das wusste auch Aynur. Allerdings brachte es wohl nichts, sie darauf hinzuweisen.
»Dir ist klar, dass es immer Mittel und Wege gibt, dich in der Nähe deiner Matte zu halten.«
»Ja.«
Neben meiner Bettstatt war, wie an allen anderen, ein schwerer Ring im Boden eingelassen. Mithilfe einer Fußfessel war es ein Leichtes, mich dort anzuketten.
»Hast du im Garten auf jemanden gewartet?«, wollte sie wissen.
Ich verneinte.
Bereits in der Theorie gestaltete sich die Planung solcher Treffen riskant und schwierig. Wir standen nicht im unmittelbaren Kontakt zur Außenwelt, und diese suchte im Grunde genommen auch keinen mit uns, von der Mauer und den oben angebrachten Klingen ganz zu schweigen. Dass jemand ungebeten durch das Haus kam und den Garten betrat, war unwahrscheinlich, aber dennoch geschehen. Er hatte behauptet, man kenne ihn hier, was durchaus nicht abwegig zu sein schien. Nicht dass es im Garten keine Form von Politik gab, aber intrigiert wurde für gewöhnlich nur unter den Blumen. Als solche waren wir, wenn es zu Begegnungen mit Auswärtigen kam, vollständig der Gnade anderer unterworfen, etwa der Wachen. Gelegentlich kam es vor, dass Männer aus fremden Häusern versuchten, an bestimmte Blumen zu gelangen. Man nehme beispielsweise an, jemand hege den Verdacht, eine Frau, keine wie wir natürlich, werde in einem bestimmten Garten festgehalten, dann wird darauf hingearbeitet, dies zu bestätigen. Unabhängig davon mag sie sich darum bemühen, die Wachhabenden zu bestechen, etwa indem sie eine reichhaltige Belohnung für ihr Freikommen in Aussicht stellt, nicht wahr? Wehe bloß, man erwischt sie beim Ränkeschmieden, denn dann kann sie ihren hohen Stand binnen einer Nacht verlieren und sich im Garten als eine wiederfinden, die nichts Besseres ist als wir. In diesem Fall nähme die Angelegenheit eine völlig andere Wendung. Fortan würde sich nicht mehr die Frage nach Freiheit oder Gefangenschaft stellen, denn es ginge nur noch um das Wechseln des Halsreifs. Bei allen Machenschaften im Garten, die mit Männern von außerhalb zusammenhängen, haben fast immer die Wachen oder anderes Personal die Hände im Spiel, denn sie dienen notwendigerweise als Vermittler. Wie gesagt ist solcherlei aber extrem gefährlich. Außerdem kann es natürlich zu internen Liebeleien und Ähnlichem kommen. Eine Blume zum Beispiel, die sich für einen ansehnlichen Wachmann erwärmt und ein Auge auf ihn geworfen hat, mag alles auf eine Karte setzen und sich vor ihm aufbauen, um ihre Bedürfnisse und Empfindungen offenzulegen. Möglich ist gewiss auch, dass ein Wachmann oder Angestellter selbst eine solche Affäre anstrebt, denn diese Männer sind bezüglich der Bewohnerinnen des Gartens nicht so unbedarft, wie man weithin annimmt. Auch hier bestehen wiederum enorme Risiken.
»Sprich weiter«, drängte Aynur.
»Ich war nicht müde«, rekapitulierte ich. »Ich wollte mich bewegen, deshalb kam ich in den Garten.«
»Du wusstest nicht, dass jemand hier war?«
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