John Norman
Die Nomaden von Gor
»Lauf!« rief die Frau mir zu. »Lauf um dein Leben!«
Sie hastete an mir vorbei, eine Bäuerin, in grobes Sackleinen gekleidet. Sie trug einen Bastkorb mit Vulos — gezähmte Tauben, die ihrer Eier wegen gehalten werden. Ihr Mann, eine Kiepe auf dem Rücken, folgte ihr dichtauf. Er machte einen großen Bogen um mich.
»Vorsicht«, sagte er. »Ich trage einen Heimstein.«
Ich trat zurück und machte keine Anstalten, meine Waffe zu ziehen. Obwohl ich der Kaste der Krieger angehörte und er nur ein Bauer war, behindert man nicht ohne weiteres einen Mann, der seinen Heimstein trägt.
Als er erkannte, daß ich ihm nichts antun wollte, blieb er stehen und deutete zum Horizont. »Sie kommen«, sagte er. »Lauf, du Narr! Flüchte dich nach Turia!«
Turia, die Stadt mit den hohen Mauern und den neun Toren, lag inmitten der gewaltigen Prärien, auf die die Wagenvölker Anspruch erhoben. Sie war bisher unbesiegt geblieben.
Unsicher stolperte der Bauer weiter, wobei er immer wieder entsetzte Blicke über die Schulter warf.
In einiger Entfernung machte ich andere Menschen aus, die offensichtlich vor etwas flohen — von Lasten gebeugt, Haustiere vor sich her treibend. Schon stob eine Herde kleiner Kailiauk an mir vorüber, stämmige Graslandtiere, sandfarben, wild, schwer, die breiten Köpfe mit einem dreizackigen Horn versehen; sie hatten keinen Wehrkreis gebildet, in dem sie Jungtiere und Weibchen schützten, nein, auch sie waren geflohen. Hinter ihnen entdeckte ich zwei der sechsbeinigen Präriesleen, kleiner als der Waldsleen, aber ebenso heimtückisch und bösartig, beide etwa zwei Meter lang, nicht weit davon entfernt einen Tumit, einen großen Laufvogel, dessen gekrümmter Schnabel nur zu deutlich von seinen Freßgewohnheiten zeugte. Die Wagenvölker erhoben Anspruch auf die südlichen Prärien Gors, vom schimmernden Thassa und den Bergen Ta-Thassa bis hin zu den südlichen Ausläufern der Voltai-Berge, die sich wie das Rückgrat Gors aus der Kruste des Planeten erhoben. Im Norden behaupteten sie sich sogar bis zu den riedbewachsenen Ufern des Cartius, eines breiten, schnellen Nebenflusses des unvergleichlichen Vosk. Das Land zwischen Cartius und Vosk hatte einmal innerhalb der Grenzen des großen Reiches von Ar gelegen, doch selbst Marlenus, Ubar aller Ubar, hatte es in seiner Amtszeit nicht gewagt, seine Tarnkämpfer nach Süden über den Cartius vorstoßen zu lassen.
In den vergangenen Monaten war ich aus der nördlichen in die südliche Hemisphäre Gors vorgestoßen, zu Fuß, über den Äquator, wobei ich mich durch die Jagd ernährt hatte und zuweilen auch in die Dienste von Handelskarawanen getreten war. Ich hatte das Sardargebirge im Monat Se’Var verlassen, der auf der nördlichen Halbkugel ein Wintermonat ist, und war sehr lange unterwegs gewesen; nun hatte ich dieses Gebiet erreicht — von einigen die Ebene von Turia, von anderen das Land der Wagenvölker genannt —, und in dieser Hemisphäre herrschte der Herbst. Das will nicht viel besagen, da wohl aufgrund des Gleichgewichts zwischen Land und Wasser auf diesem Planeten keine sonderlichen Unterschiede zwischen den Jahreszeiten festzustellen sind. Andererseits sind Gors Temperaturunterschiede zuweilen extremer als die auf der Erde, was vermutlich auf die gewaltigen windgepeitschten Ebenen dieses Planeten zurückzuführen ist; obwohl Gor kleiner ist als die Erde und dementsprechend eine geringere Anziehung ausübt, mögen seine Landgebiete die meines Heimatplaneten weit übersteigen, obwohl ich das nicht genau weiß; die kartographisch erfaßten Regionen sind zwar gewaltig, stellen aber nur einen geringen Teil der Planetenoberfläche dar.
Einige Minuten beobachtete ich reglos die Tiere und Menschen, die in Richtung Turia flohen. Ich vermochte ihr Entsetzen nicht zu verstehen. Selbst das Herbstgras wogte in gewaltigen Wellen in Richtung Turia und schimmerte dabei in der Sonne wie eine sandfarbene Brandung unter den dahinjagenden Wolken; es war, als suche selbst der Wind Schutz hinter den hohen Mauern der fernen Stadt. Ich schaute in die Richtung, aus der all die Flüchtenden gekommen waren. In einigen Pasang Entfernung entdeckte ich hohe Rauchwolken, die in die kalte Luft stiegen. Offenbar brannten dort Felder. Die Prärie selbst brannte nicht; nur die Felder von Bauern waren betroffen, die Felder von Menschen, die sich den Boden urbar gemacht hatten; das eigentliche Präriegras, das den mächtigen Bosk ernährte, blieb verschont.
Auch sah ich in der Ferne Staubwolken wie eine schwarze Gewitterwand, Staub, der unter den Hufen unzähliger Tiere emporwirbelte — zweifellos die Boskherden der Wagenvölker.
Die Wagenvölker treiben keine Landwirtschaft, auch kennen sie keine Produktion von Handelsgütern, wie wir sie haben. Sie sind Hirten und — wie es heißt — Mörder. Sie essen nichts, das mit dem Schmutz der Erde in Berührung gekommen ist. Sie leben vom Fleisch und von der Milch des Bosk. Sie gehören zu den stolzesten Menschengruppen Gors und halten die Stadtbewohner des Planeten für Ungeziefer, für Feiglinge, die sich hinter Mauern flüchten müssen, für arme Seelen, die vor dem freien Himmel Angst haben, die es nicht wagen, sich den offenen, .windbewegten Weiten ihrer Welt auszusetzen.
Der Bosk, der die Wagenvölker am Leben erhält, ist ein bisonähnliches Tier, ein riesiges, unförmiges Wesen mit gewaltigem Höckernacken und langem, verfilztem Fell. Er hat einen breiten Kopf und winzige rote Augen, ein Temperament, das dem des Sleen entspricht, und zwei lange, spitze Hörner. Bei größeren Tieren messen diese Hörner von Spitze zu Spitze über zwei Speerlängen.
Die Wagenvölker ernähren sich aber nicht nur vom Fleisch und von der Milch des Bosk; sein Leder bedeckt auch die kuppelähnlichen Wagen, in denen sie leben; seine gefärbten, zusammengenähten Häute bildeten ihre Kleidung, das Leder des Höckers findet für Schilde Verwendung, seine Sehnen als Bindfaden, seine Knochen und Hörner sind Rohstoff für hundert verschiedene Dinge. Sogar der Dung wird verwertet; man trocknet ihn und verwendet ihn als Brennstoff. Der Bosk wird als Mutter der Wagenvölker bezeichnet, und in dieser Eigenschaft verehren sie ihn. Jeder, der einen Bosk sinnlos tötet, wird erdrosselt oder im Fell jenes Tieres erstickt, das er getötet hat. Hat der Betreffende sogar ein Muttertier mit einem ungeborenen Jungen erwischt, wird er bei lebendigem Leibe vor der Boskherde an einen Pfahl gebunden, und Herde und Wagenkarawane wälzen sich über ihn hinweg.
Der Strom der Flüchtenden nahm ab, nur der Wind blieb, und das Feuer in der Ferne. Plötzlich spürte ich, daß der Boden bebte. Meine Nackenhaare schienen sich aufzurichten. Die Erde erzitterte unter den Hufen der Boskherden. Die Wagenvölker kamen.
Ihre Vorreiter mußten bald in Sicht sein.
Ich hängte meinen Helm über die linke Schulter, wo ich schon ein Kurzschwert trug; mit dem linken Arm hielt ich meinen Schild, in der rechten Hand den goreanischen Kriegsspeer.
So begann ich auf die Staubwolke zuzugehen.
Dabei fragte ich mich nicht zum erstenmal, was ich, Tarl Cabot, auf der Erde geboren und später Krieger der goreanischen Stadt Ko-ro-ba, der Türme des Morgens, eigentlich hier suchte.
In den langen Jahren seit meinem ersten Besuch auf der Gegenerde hatte ich viele Dinge gesehen und erlebt, hatte manche Gefahren und erstaunliche Situationen überstanden, hatte auch manche Freuden genießen können — doch ich wußte nicht, ob ich je etwas so Unvernünftiges, ja, Törichtes getan hatte wie jetzt.
Vor einigen Jahren waren am Höhepunkt einer seit Jahrhunderten schwelenden Intrige zwei Männer, Angehörige zweier goreanischer Städte, von den Priesterkönigen mit einer geheimen gefahrvollen Aufgabe betraut worden — sie sollten einen Gegenstand zu den Wagenvölkern bringen, die nach allgemeiner Auffassung zu den freiesten, isoliertesten und wildesten Volksgruppen des Planeten gehörten — einen Gegenstand, den sie sicher aufbewahren sollten.
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