Warum fragte er mich all diese Dinge?
Natürlich konnte ich nicht lesen! Musste ihm das nicht offensichtlich werden, wenn er meine Züge und mein Seidengewand sah? Gewiss, einige der Blumen konnten lesen – aber ich nicht! Das musste er doch wissen! Und natürlich erkannte ich dieses Zeichen. War es denn nicht weithin bekannt? Was wollte er?
Er steckte das Blatt Papier zurück in seine Tasche.
Ich blickte zu ihm auf, wollte in seinen Augen lesen.
»Warst du in der Nähe der Mauer?«, fragte er beiläufig.
In diesem Moment musste mir wohl sämtliche Farbe aus dem Gesicht gewichen sein.
Nun hatte ich keinen Zweifel mehr daran, dass er mich gesehen hatte! Er durfte es niemandem sagen!
»Dein Zeichen«, verlangte er gleichgültig.
Ich richtete mich auf meinen Knien auf und drehte meinen Körper nach rechts, dann zog ich die Seide auf der linken Seite mit den Fingern beider Hände bis zur Taille nach oben, wie man es tut, wenn man aufgefordert wird, die kleine elegante Markierung dort, direkt unter der Hüfte auf dem linken Schenkel, vorzuzeigen.
»Schöne Hüften hast du«, bemerkte er.
Schon oft hatte ich solche Komplimente gehört. Meine Hüften schienen den Gefallen der Männer zu finden, ebenso wie andere Teile meines Körpers und auch mein Körper als Ganzes.
Doch dann bemerkte ich, dass sein Blick fest auf das Brandzeichen gerichtet war.
»Ja«, murmelte er, während er es betrachtete.
Doch sicher hatte es keine besondere Bedeutung für ihn. Soweit ich das verstand, war dieses Zeichen in seinen zahlreichen Variationen auf dieser Welt die weit verbreitetste Markierung für Wesen wie mich. Es war eine ganz gewöhnliche Markierung, nichts an ihr war außergewöhnlich oder anders.
»Ja«, sagte er noch einmal und schien zufrieden zu sein.
Es überraschte ihn nicht, dass ich ein Brandzeichen am Körper hatte – natürlich nicht. Es wäre höchst ungewöhnlich, wenn eine wie ich nicht diese oder eine ähnliche Markierung am Leib hätte, zumal an diesem Ort. Hier sind diese Zeichen etwas vollkommen Normales. Der Handel und die sozialen Gepflogenheiten haben diese Dinge standardisiert.
Auch ich blickte auf das Brandzeichen hinab. Es wird erwartet, dass wir es uns in solchen Situationen ansehen, wie es auf unserer entblößten Seite prangt, während die Seide von den Fingern beider Hände bis zur Taille hochgezogen ist. Man hat uns beigebracht, unsere Augen nach links unten zu richten, uns die Markierung einmal mehr anzusehen, ihre Bedeutung einmal mehr in uns aufzunehmen. Ich schaute ihn an, und er blickte mich an, mit einem schmalen Lächeln um die Lippen.
Hastig sah ich wieder zu dem Brandzeichen hinab. Was fand er daran nur so interessant? Jemand wie er, groß, stark und voller Energie, der von dieser Welt stammt, in dessen Verhalten ich unbeugsamen Willen und Zielstrebigkeit spürte, dessen Lenden gewaltige Macht entströmte, sollte eine solche Markierung doch eigentlich schon viele Male gesehen haben, ebenso wie er eine wie mich schon oft gesehen haben sollte. So jemand sollte mit meiner Art nicht unvertraut sein, mit unseren diversen Vorzügen, damit, wie man uns benutzte.
Vielleicht hatte er nur gewollt, dass ich meine linke Hüfte vor ihm entblößte. Schließlich ist es doch gut möglich, dass es einer wie er erquicklich oder amüsant findet, uns zu beobachten, während wir uns auf seinen Befehl hin, vielleicht widerwillig, vielleicht sogar mit Tränen in den Augen, vor ihm entblößen. Vielleicht hätte er, der er war, was er war, an jeder Interesse gefunden, die war, was ich war. Aber nein! Er hatte sich für das Brandzeichen interessiert. Welche Bedeutung hatte es für ihn? Es war eine ganz gewöhnliche Markierung. Klein, geschmackvoll und wunderschön. Ich hegte keinen Zweifel daran, dass es noch zu meiner Schönheit beitrug. Außerdem erfüllt es auch einen symbolischen Zweck durch sein Muster, durch seine Realität und die Tatsache, dass es meinen Körper ziert. Tatsächlich hatte ich manchmal vor Leidenschaft leise geschrien, wenn ich auch nur daran dachte. Mehr als einmal hatte ich es in stiller Bitte vor einer der Wachen entblößt, um sie daran zu erinnern, was ich war, und was ich hoffte, von ihm zu bekommen, und was ich von ihm brauchte – ein wortloses Flehen, auf dass die Wache sich meiner erbarmte. Doch oft reichte ihnen das nicht, dann nahmen sie mir meinen ganzen Stolz, indem sie mich vor ihren Füßen umherkriechen, sie lecken und küssen und laut betteln ließen. Je nachdem, wie es ihnen gefiel, erbarmten sie sich dann meiner oder auch nicht. Hin und wieder verbot man uns natürlich, zu sprechen. Dann müssen wir unsere Bedürfnisse auf andere Weise kommunizieren, durch Wimmern, Stöhnen und Tränen. Doch der eigentliche Grund für das Brandzeichen ist vermutlich ein anderer, einer, der nichts mit so naiven Begründungen wie der Betonung unserer Schönheit oder der Art zu tun hat, wie wir, die wir dieses Mal tragen, uns dadurch fühlen. Vielmehr geht es wohl schlicht und ergreifend um eher alltägliche Erwägungen, zum Beispiel um Belange des Besitz- und Handelsrechts. Denn anhand des Brandzeichens kann man uns problemlos identifizieren und erkennen, verstehen Sie?
Doch er schien an diesem ganz speziellen Brandzeichen auf meiner Hüfte interessiert zu sein. Das war schwer zu verstehen, handelte es sich doch lediglich um eine der zahlreichen Variationen der herkömmlichen Markierung. Zweifelsohne, so nahm ich an, gab es viele, ja sogar Tausende in der Stadt, die dasselbe oder ein ähnliches Mal trugen.
Ich blickte noch einmal zu ihm auf und dann, als ich spürte, dass es in Ordnung wäre, schob ich den Stoff nach unten. Anschließend nahm ich wieder die vorherige Position ein, nach hinten gebeugt kniend, die Schenkel auf den Fersen, ihm zugewandt, aber ohne ihm in die Augen zu blicken.
Er hatte zufrieden gewirkt, als er das Brandzeichen betrachtete. Irgendeine Bedeutung musste es für ihn haben. Welche das sein konnte, vermochte ich nicht zu sagen, doch gewiss war er nicht an mir interessiert, außer auf die Weise, wie Männer an einer, wie mir interessiert sind – eine flüchtige Laune.
»In welches Haus hat man dich ursprünglich gebracht?«, fragte er. Angsterfüllt sah ich ihn an.
»Du warst in der Nähe der Mauer, nicht wahr?«
»Bitte«, flehte ich.
Er musterte mich. Tränen bildeten sich in meinen Augen. »Ich weiß nicht, in welches Haus man mich zuerst gebracht hat«, sagte ich. Das war die Wahrheit.
»Wie hieß der, der dich zuerst besessen hat?«, wollte er nun wissen.
»Ich weiß es nicht«, entgegnete ich, und auch das entsprach der Wahrheit.
»In welcher Stadt hast du dein Mal erhalten?«
»Man hat mich in den Pferchen gebrandmarkt. Kurz nach meiner Ankunft hier. Man hat mir nicht erlaubt, die Pferche zu verlassen. Ich wusste nicht, wo ich war.«
»Niemand hat je den Namen der Stadt erwähnt?«
»Nein«, beharrte ich.
Er nickte. Das schien die Antwort zu sein, mit der er gerechnet hatte.
»Wie lauten die Namen derer, die dich ausgebildet haben?«, fragte er weiter.
»Sie nannten uns keine Namen«, antwortete ich. Er lächelte. Auch das schien er erwartet zu haben.
An einen konnte ich mich besonders deutlich erinnern. Ihn hatte ich nie vergessen: Der erste Mann, den ich in dieser Welt deutlich gesehen hatte, als man mir in jenem Korridor gestattete, aufzublicken. Ich, eine Frau von einer anderen Welt, fremd in dieser, die man aus ihrer eigenen Welt entfernt, herausgerissen, und als Gefangene oder etwas noch Niedrigeres hierhergebracht hatte, hatte nackt zu seinen Füßen gekniet, hatte voller Angst in Ketten zu ihm aufgeblickt. Hatte vor ihm gezittert. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass es solche Männer wie ihn gab. Er, ausgerechnet er, war die erste Person gewesen, die ich in dieser Welt gesehen hatte. Er war es, von dem ich gedacht hatte, ich könnte wichtig für ihn sein. Seine Peitsche hatte er gegen meine Lippen gedrückt, auf dass jene bedeutungsvolle Zeremonie in eingeschüchtertem Einverständnis vollzogen werden konnte. Ich erinnerte mich genau an ihn. Er war der Erste, an dessen Peitsche ich meine Lippen gepresst hatte. Ich hatte gedacht, es würde ihm etwas bedeuten. Doch dann, als ich die zweite Peitsche geküsst hatte, war mir klar geworden, dass ich ihm gleichgültig war. Für ihn war ich nur eine weitere Frau an der Kette. Während meiner Ausbildung hatte ich oft versucht, ihn auf mich aufmerksam zu machen, doch er hatte mir nur wenig Interesse geschenkt. Es war nur zu deutlich gewesen, dass ich für ihn ein Nichts war. Manchmal, wenn er mich doch beachtete, schien er, aus welchem Grund auch immer, wütend. Nicht ein einziges Mal berührte er mich, außer, um meine Haltung zu korrigieren oder mich vorteilhafter zu positionieren, und dann packte er mich unsanft, ja sogar grob und gewiss fester, als nötig gewesen wäre. Er hatte keine Geduld mit mir, obwohl er mit einigen der anderen nachsichtig war. Aus irgendeinem Grund mochte er mich nicht. Ich zitterte unter seiner Berührung, konnte kaum auf meinen Beinen stehen, wenn er in der Nähe war. Manchmal, wenn ich ihn anflehte, trat er mich mit seinem Fuß, dann wandte er sich einfach ab und ließ mich zurück, auf meinen Knien, verschmäht und abgelehnt. Anschließend stieß er mich wieder zu einem anderen hinüber. Doch ich hatte ihn nie vergessen. Er war es gewesen, den ich, von allen Wesen auf dieser Welt, in Ketten auf dem Boden kauernd, deutlich gesehen hatte. Seine Peitsche war es gewesen, gegen die ich zuerst meine Lippen gepresst hatte. Noch immer erinnerte ich mich an den Geschmack des Leders. Doch ich kannte nicht einmal seinen Namen.
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