Über meinen Überlegungen zu Lentos Tod hatte ich die Hünger-Geschichte vergessen, die mir wegen des mir noch in den Ohren summenden Satzes von Klara Steffen wieder einfiel: «Dass du es wagst, nach Hünger zu fragen; gerade du und gerade jetzt, nachdem wir diese Geschichte vergessen wollten. Schluss jetzt. Ich möchte von dir nichts mehr hören.»
In dem Moment klingelte erneut das Telefon. Ich nahm den Hörer ab; wieder war es Annette.
3. Weiterstochern
«Du spinnst wohl», entfuhr es mir. Noch war der Vormittag nicht vorbei, den ich bereits mehr als nur ereignisreich empfand, und schon hatte Annette der Sache eine neue Wendung, und zwar, so fühlte ich zumindest, ins Ungewisse, aber mit einer neuen Qualität, gegeben.
«Wie kannst du, ohne mich zu fragen, die Witwe Hünger anrufen? Ich finde das trotz deinen guten Absichten, deinem guten Willen und was auch immer, eine Einmischung in meine ureigensten Angelegenheiten, eine schlicht grenzüberschreitende Anmassung!»
Das klang etwas gestelzt, aber ich war ernsthaft böse und musste mich enorm zusammennehmen. Dies gelingt mir zwar oft leidlich, doch führt das dann zu der etwas bemüht unterkühlten, rationalen Reaktion.
«So gib dich doch nicht so. Hör erst einmal zu. Sie war gar nicht da, sondern nur ihr Anrufbeantworter: ‹Wegen Todesfall in der Familie ist niemand zu Hause› oder so ähnlich.»
«Warum sagst du das nicht gleich», atmete ich auf. Denn ein Gespräch der etwas redseligen Annette mit der Witwe bereitete mir Bange, weil für mich zu viele Dinge für eine direkte Konfrontation mit ihr noch ungeklärt waren.
Annette unterschied oft nur wenig zwischen interpretierter psychologischer Wirklichkeit und jener, wie sie wahrscheinlich die Mehrheit der sich um Sachlichkeit bemühenden Zeitgenossen erlebten. Deshalb hätte sie diese Unklarheiten mit ihren Hypothesen nur allzu leicht ausgefüllt und mit diesem Gespräch – immerhin ging es um einen Todesfall, der erst vier Tage her war – nur Unheil angerichtet. Dazu kommt, dass es mich schlicht und einfach ärgerte, dass sie eine Vergangenheit von mir zunehmend okkupierte – vielleicht übertreibe ich etwas –, die sie nun wirklich nichts anging. So war ich froh, dass sie nicht mit Frau Hünger gesprochen und ihr noch keine Informationen über mich gegeben hatte. Oder doch?
«Hast du ihr eine Meldung hinterlassen? Ich hoffe nicht.»
«Natürlich, mein Lieber, ich sagte ihr, sie solle dich zurückrufen, Bezug nehmend auf die Todesanzeige. Du habest ihren Mann im Internat gekannt, und du möchtest dich mit ihr unterhalten.»
«Unterhalten?»
«Natürlich. Besprechen wegen der Todesanzeige!»
«Kommt nicht in Frage! Bevor ich nicht meine Erinnerung um Hünger aufgefrischt habe, lasse ich mich auf kein Gespräch mit der Witwe ein! Und überhaupt … was würdest du sagen, wenn ich so spontan über dich verfügen würde? Ich finde das ziemlich stark!»
Obwohl es nicht gar so harsch gemeint war, setzte Annette zu einer längeren umständlichen Rechtfertigungsrede an, die ich nur deshalb nicht unterbrach, weil ich mir das weitere Vorgehen durch den Kopf gehen liess.
Im Prinzip hatte ich drei Optionen: Erstens, das Ganze auf sich beruhen lassen, auf die Seite legen als einen kurzen Vergangenheitsflash ohne Bedeutung. Zweitens, tatsächlich mit der Witwe sprechen, sie fragen, die Sache aufklären, einen Aha-Effekt erleben, vielleicht ein beruhigendes Gefühl erhalten und wahrscheinlich ebenfalls auf die Seite legen. Und drittens die Sache persönlich nicht nur ernst nehmen, sondern durch persönliche Recherchen aufklären, und zwar bis ich sicher war, worum es ging, ohne Kontaktnahme mit Frau Hünger.
Gegen Option eins, Fallenlassen, sprach bereits recht viel, die sonderbare Todesanzeige, die Reaktion Klara Steffens, irgendwie auch der Tod Lentos, rein gefühlsmässig – und vor allem das starke Gefühl in mir, dass da eine Geschichte im Dunkeln auf mich lauerte, derer ich mich entledigt geglaubt hatte und die für mich wieder bedrohlich wurde. Gegen Option zwei sprach eben die Tatsache, dass Frau Hünger mit diesem Inserat irgendetwas bezweckte und es da unklug wäre, sich ohne Erinnerung mit ihr in eine Diskussion einzulassen. Das Dumme aber war nun der Anruf von Annette und ihre Mitteilung auf dem Anrufbeantworter. Dies hiess, dass ich in Bezug auf die Zeitverhältnisse nicht beliebig frei war. Blieb also nur Alternative drei …
«Hörst du mir überhaupt zu?»
«Nein, aber es macht auch wenig Sinn, denn eines steht fest, weder du noch ich werden mit der Witwe Hünger sprechen, bevor ich nicht mehr weiss. Und im Übrigen wäre es besser, du kämst noch am frühen Nachmittag nach Hause, damit wir uns ohne Hast auf den Abend vorbereiten können.»
Soweit der zweite Teil des Telefongesprächs mit Annette. (Im ersten Teil berichtete ich nur vom Tod Lentos und dem Anruf der Steffen.) Nachher überlegte ich das weitere Vorgehen, wobei ich nun mit Systematik an diese Recherche gehen wollte. Ich setzte mich an den Schreibtisch im Grünen Zimmer – Wände grün, Vorhänge grün, Sitzüberzüge grün, also eine beruhigende Atmosphäre –, nahm einen Block, schrieb mir alle Namen auf, die mir im Zusammenhang mit Hünger in den Sinn kamen.
Tatsächlich erinnerte ich mich nun an meine damalige Klasse – jedenfalls hatte ich diesen Eindruck.
Ich kam spontan auf vierzehn Vor- oder Übernamen. Bevor ich mich der Geschlechtsnamen erinnern wollte, klassierte ich die Namen in zwei Gruppen: in Freunde und Kollegen. Als die Liste vollständig war, fiel mir auf, dass die als Freunde Aufgeführten mit mir ins Talinternat wechselten, wobei diese alle – bis auf Harry, der früher abging – auch abschlossen. Die Übernamen ergaben sich aus der Zugehörigkeit zu einer der vier Schülerverbindungen.
Interessant schien mir aber, dass unter den Kollegen mindestens drei waren, mit denen ich im Berginternat im Zimmer war: konnte es sein, dass diese früher auch als Freunde galten, ich in der Erinnerung aber nur jene als Freunde empfand, die das auch im Talinternat geblieben sind? Hünger war nicht in unserer Klasse … oder doch? Aha, eine Erinnerung, er war nicht in unserer Klasse, aber hatte sein Zimmer – seine Bude – auf dem Stock unserer Klasse. Jawohl, deshalb seine Bekanntheit, er war auf dem obersten Stock unter uns … mit wem? Schwierig. Wer könnte das gewesen sein? Da fallen Pan und Reto weg sowie Jost und Pierrot; auch Hanspeter – was aus dem Streber wohl geworden ist? – und Peter, die hausten alle in Zweierbuden.
Lento war extern und Heini mit mir. Frederic – ein Sulzer aus der Grossindustriellenfamilie – bewohnte das Einerzimmer. Es blieben also Ronny, Harry, Kahn, Fräne sowie Mäges. Falsch, auch Hünger. Das geht nicht auf. Da fehlt einer. Aha, Oskar, jawohl Oskar, er war auch nur ein Jahr da … mit wem? … Die erste Bude auf der linken Seite des Ganges … mit Fräne, jawohl, Fräne, ein völlig gegensätzliches Paar: der eine spiessbürgerlich, verklemmt und geizig und der andere, Fräne, beinahe ein Bohemien, in speckiger Wildlederjacke, mit vom heimlichen Tabakrauchen gelben Fingern und sich sehr intellektuell gebend. Also, es blieben Ronny, Kahn, Harry und Mäges. Einer von diesen war mit Hünger zusammen. Auch fehlte einer – oder war einer zu viel? Aber wer? Nichts zu machen. Es kam nicht. Egal, warten wir’s ab.
Nun versuchte ich der Erinnerung die Nachnamen beizufügen und sie der Wahrscheinlichkeit nach, dass sie auch mit Hünger etwas zu tun hatten, zu ordnen – allerdings rein intuitiv. Dazu kam, dass ich das ungute Gefühl nicht unterdrücken konnte, dass ich nicht alle Namen notiert hätte, da ich so nur auf neun Zimmer kam, es aber ebenso gut zehn sein konnten. Dem war jedoch abzuhelfen: Sobald ich den ersten Kontakt hergestellt hätte, würde ich sicher die Liste und auch die vergessenen Nachnamen komplettieren können. Schwieriger war zweifellos, die gegenwärtigen Anschriften herauszufinden – doch vielleicht bedurfte ich deren gar nicht, da mir nach einmal begonnener Recherche sicher bald der ganze Sachverhalt wieder präsent sein würde.
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