«Was willst du …, dass du es wagst, nach Hünger zu fragen, gerade du und gerade jetzt – nachdem wir diese Geschichte alle vergessen wollten. Schluss jetzt. Ich möchte von dir nichts mehr hören.»
Und aufgehängt, und wieder hörte ich nur noch das Summen am Ohr, wie heute bereits einmal.
Da sass ich nun mit meinen Gedanken in die bisherigen Geschehnisse dieses Morgens verkrallt. Sie drehten und wendeten sich im Grunde um zwei Fragen hin und her: Was war mit Hünger? Was war mit Lento? Die zweite Frage beschäftigte mich allerdings zunächst mehr: Lento, ein ehemaliger Freund von mir, ein Stück meiner Vergangenheit, war unmittelbar nach der Internatszeit zu Tode gekommen. Dieser Tod löste bei mir echte Trauer aus, und irgendwie kann ich Trauer nicht einfach so hinnehmen, sondern suche Erklärungen, die mich nun intensiv nachdenken liessen.
Die Hünger-Geschichte trat dabei etwas in den Hintergrund, umso mehr als alles in seinem Zusammenhang irgendwie störend, ja eigentlich unangenehm wirkte, wobei mir insbesondere die harsche, mir etwas unverständliche Reaktion Klara Steffens zu denken gab. Mag sein, dass ich da auch ganz bewusst weiterhin etwas unterdrückte, weil ich von der Aufklärung dieser Geschichte eben nichts Angenehmes erwartete und der Tod Lentos mir ganz einfach näher lag.
Ich begann aufgrund meines Wissensstandes um den Unfall und Lento zu tagträumen – wie es wohl gewesen sein könnte, wobei dieser Tagtraum mit der Zeit Ähnlichkeiten mit einem Heimatfilm entwickelte. Ich stellte mir vor, wie Lento an jenem Samstag verschwitzt in der Jenatsch-Hütte eintraf, seinen Rucksack und das Gewehr, seine Uniformjacke und Mütze niederlegte und vielleicht sogar ohne Rast und nur mit dem Feldstecher bewaffnet weiterschritt, sich nun leichter fühlend. Nicht weit von der Hütte entfernt, aber nicht beobachtbar, wird er sich an einen Felsen angelehnt haben, um dann ruhig nach irgendeinem, nur ihm bekannten System die umliegenden Berge, insbesondere die weniger steilen Felspartien, die mit Felsenbändchen oder gar eigentlichen Vegetationsflächen durchzogen waren, zu beobachten. Immer wieder und immer wieder … und irgendeinmal, noch vor der Dämmerung, musste er sie entdeckt haben, die Gämse seiner Wahl. Kann sein, dass er mehrere an unterschiedlichen Orten entdeckte, sich aber vor allem auf eine konzentrierte, die weniger leicht sichtbar und schwieriger zugänglich war, um sich nicht mit anderen Jägern absprechen und mit ihnen teilen zu müssen. Auch wusste er um seine Stärke, der beinahe waghalsigen Kletterei, die er gegenüber seinen Pirschkonkurrenten ohne Hemmungen einzusetzen wusste.
Kann sein, dass er dann in die Hütte ging, seinen Schlafplatz reservierte, seine Sachen deponierte, um dann einsilbig sein mitgebrachtes Trockenfleisch mit Brot und vielleicht noch ein Stück Bergkäse zu verzehren. Entgegen dem Brauch für sich alleine, etwas mürrisch, in sich gekehrt, bereits mit dem morgigen Jagdgang beschäftigt. Aus diesem Grunde wird ihm auch entgangen sein, dass einer der anwesenden Jäger ihn etwas länger als üblich beobachtete, wer weiss, vielleicht war es sogar ein alter Bekannter aus dem Dorf, den er vorher nur flüchtig gegrüsst hatte. Beim Einsetzen der Dunkelheit würde er sich dann mit einem hingeworfenen «Gute Nacht miteinander, ich will morgen sehr früh raus» verabschiedet haben, um sich hinzulegen und auch bald einzuschlafen, weil er von dem wenigen Schlaf in der Rekrutenschule sicher leidlich müde war. Allerdings nicht ohne vorher dem Hüttenwart mitzuteilen, ihn doch bitte mit den Bergsteigern um drei Uhr zu wecken: was dann wohl auch geschah.
Nach einem reichlichen Frühstück – wiederum Mitgebrachtes mit dem Kaffee des Hüttenwartes und mit mehr Gesprächsbereitschaft mit den Bergsteigern, die allerdings jetzt die Wortkargeren waren – verliess er dann kurz vor vier Uhr, noch bei Dunkelheit, die Hütte, um in Richtung Süden den Hang entlang hochzusteigen. Ob seiner Zielstrebigkeit, seinen Gesprächsversuchen mit den Bergsteigern war es ihm vielleicht entgangen, dass da noch einer aufstand und – vielleicht eben ohne Frühstück, ganz bewusst in aller Heimlichkeit, weil auch er ein bestimmtes Ziel im Sinne hatte – ihm folgte. Vielleicht sogar mit demselben Ziel, das heisst der gleichen Gämse oder Gruppe von Gämsen vor Augen, welche die Mehrheit der Jäger – oder zumindest glaubten sie das – noch nicht entdeckt hatten. Ich kann mir vorstellen, dass beide, ohne voneinander zu wissen, in die gleiche Richtung hochmarschiert sind, wobei sich der Abstand infolge der Kraft und Geschicklichkeit Lentos vergrösserte.
Lento war in der Zwischenzeit, nach gut zwei Stunden Aufstieg, bereits in die erste Felswand eingestiegen und kletterte in der heller werdenden Dämmerung trittsicher, aber zügig von einer Rinne zu einem Felsband hoch, als er bei einem Blick zurück seinen Verfolger noch auf der Geröllhalde zum ersten Mal sah. Und hier wird mein Tagtraum vollends zum Heimatfilm, der aber sehr wohl realen Charakter haben könnte: Ihm wurde nämlich sofort klar, dass dieser Jäger nach der gleichen Gämsgruppe aus sein musste, und er beschleunigte daher seine Kletterei, um die Distanz zu vergrössern. So konnte es ihm gelingen, einen Schuss – und zwar in Ruhe und ohne zu zittern – anzubringen, bevor sein Konkurrent selbst Schussdistanz erreichte, um die Gämsgruppe mit einem schlechteren Schuss in die schwerer zugängliche Wand zu vertreiben.
In der Zwischenzeit hatte Lento einen Bock und zwei Gämsen entdeckt, die immer noch in der mit Kiefern und Föhren bewachsenen Verbreiterung und Verflachung des Felsbändchens von gestern ästen. Es war offensichtlich ihr gegenwärtiger und sehr schlecht einsehbarer Lagerplatz. Mag sein, dass nun Lento, leicht gebückt, weniger auf Sicherung als auf Deckung achtend, sich den Gämsen auf dem Felsbändchen näherte, um dann etwa in 120 Meter Distanz – er galt als guter Schütze und traute sich wohl einen Blattschuss auf diese Entfernung zu – niederzuknien und, am Felsen angelehnt, anzulegen.
Ich stellte mir vor, dass in diesem Moment bereits die Sonne blutrot über der Krete erschien und Lento, zum Jägerdenkmal erstarrt, mit einem Schlag erleuchtete und dem Verfolger sofort klar wurde, dass jener gesiegt hatte, dass er wahrscheinlich nichts Jagdbares mehr vor seinen Lauf bekommen würde. Nun, vielleicht kam dazu, dass dieser Jäger ein Bekannter von ihm aus seinem Dorf war, den er – und es waren derer ja so viele – bei einer Samstagabendschlägerei in der Wirtschaft nicht nur zu hart angepackt, sondern vor den Mädchen lächerlich gemacht hatte, was ihm dieser bis heute nicht verzieh. Zum Beispiel mit dem Satz «So einfach geht das auch nicht, Lento» mochte dieser nun sein Gewehr vom Rücken nehmen und mit einem «So, nun jagen wir dir deine Gämsen weg und dir einen Schrecken ein» anlegen. Und dann, paff, und noch einmal paff, da auch Lento schiesst; doch lässt er sogleich das Gewehr fallen, greift sich an die Wade, will aufstehen, knickt ein und taumelt, will sich halten, greift neben den Stein, kann sich nicht festhalten, durch sein Schwanken verliert er das Gleichgewicht und stürzt zu Boden, auf dem steilen Felsband, rollt, eine Wendung nach unten, und schon fällt er ohne einen Schrei in die Tiefe und klatscht auf die zackigen Steintrümmer unter der Wand, die eben jetzt auch von der frühen Sonne beschienen werden. Das war’s.
Der Jäger, er hatte es ja nicht gewollt, nur wegen der Anstrengung zu zittrig geschossen und diesmal nicht, wie er wollte, daneben, sondern tatsächlich getroffen, mag sich – vielleicht nach einer kurzen Prüfung, ob Lento wirklich tot war, aber da war wirklich nichts mehr zu machen – abgewendet und rasch in den noch schattigen Teil des Hanges in Richtung Hütte entfernt haben.
Der Entschluss, niemandem etwas zu sagen, mag auf diesem Rückmarsch entstanden sein, als er feststellen musste, dass ihm niemand begegnete, ihn niemand bemerkte und damit die Möglichkeit bestand, sich unbemerkt in eine andere Richtung zu begeben. Die zwei Schüsse wurden auf Distanz, mit Echo und so, sicher als einer empfunden, der ja von Lento abgegeben wurde. Vielleicht im Sinne eines echten Jagdunfalls gar auf sich selbst. Ja, so könnte es gewesen sein. Ich nahm mir vor, bei der nächsten Gelegenheit im Engadin mit Reto Oggier diese Hypothese zu diskutieren.
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