Matthias F. Steinmann
DIE TODESANZEIGE
Roman
Ursella Verlag
Werd & Weber Verlag
2020 bei Ursella Verlag
Ursellen 21
3510 Konolfingen
E-Book-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim
www.brocom.de
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Ursella Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Auch alle Film- und Fernsehrechte sind darin eingeschlossen.
E-Book ISBN 978-3-0381831-0-5
Alle Figuren und Handlungen in diesem Roman haben fiktiven Charakter.
Jede Übereinstimmung mit der Wirklichkeit ist daher rein zufällig. Doch Zufälle gibt es.
Der Roman handelt im Herbst 1991 einerseits und in den Jahren 1956/57/58 andererseits.
(Also zu jener Zeit, als es noch keine Handys gab).
Dieser Roman ist eine überarbeitete Neuauflage der
vergriffenen NACHTFAHRT, erschienen 1993 im Benziger Verlag
«Todesanzeigen gehören zu den am besten beachteten Beiträgen in Zeitungen. Häufiger als früher wird ihre strenge Norm durchbrochen. Zum Teil ganz direkt, zum Teil zwischen den Zeilen machen Angehörige Andeutungen über Todesursache, Lebensumstände, Familiensituationen, werden Gefühle geäussert, die über das Stereotyp ‘Wir trauern’ hinausgehen. Liebeserklärungen, Anschuldigungen, politische Anliegen – alles ist möglich.»
Beat Liniger im Zürcher Tages Anzeiger vom 25.3.1991
In trauriger Erinnerung an die Verstorbenen:
Jon Gottschalk
Klara Stoffel
Johnny Dürst
Peter König
Albert Heer
Pepe Rüedi
Hans-Ueli Forrer
Frédéric Sulzer
Gian Meyer
Alex Gribi
Mein Dank gilt herzlich Peter Balsiger für das Lektorat, Karin Füeg, Verlagsleiterin Ursella, für die Betreuung des Buches und Danila Rikas, meiner Assistentin, für das Korrektur-Schreiben des Manuskriptes.
Inhalt
1. Vergangenheitsanzeige zum Frühstück
2. Patentjagd im Hochgebirge
3. Weiterstochern
4. Alpenflug bei Hochdrucklage
5. Eine Umdrehung mehr
6. Theater, Theater!
7. Zunehmende Unsicherheit
8. Vereinzelung um Mitternacht!
9. Nachtfahrt ins böse Licht
10. Wahrhaft Böses: der Streich
11. Der Zeigefinger Gottes
12. Im Morgengrauen
13. Über den Rubikon
14. Eine Umdrehung mehr
15. In der Stüva
16. Wahrheit auf dem (Telefon-) Tisch
17. «Nur Fritz … Fritz kann das so»
18. Letzte Worte – zu spät
19. Gespräche an der Friedhofmauer
20. Zum Schluss …ein Schuss
1. Vergangenheitsanzeige zum Frühstück
Vergessen und nicht erinnert? Oder verdrängt und dann vergessen? Oder verdrängt, vergessen und nicht mehr erinnert? Was auch immer: So jedenfalls drehte ich es in meinem Kopf hin und her. Das nämlich, was ich mir konstruierte; das, was ich vor allem den Mitmenschen gegenüber stets wiederholte, sei es in klacksigen Bruchstücken oder in eleganten Kurzwürfen über das grosse Ganze. Das also, was ich mein Leben nannte und womit ich mir Sicherheit schuf. Doch heute war mehr gefragt, und dieser Umstand löste in mir einen Prozess aus, der mich derart blockierte, dass ich am liebsten meinen Kopf an die Wand geschlagen hätte. Immer wieder: damit sie doch kommen würden, die Erinnerung, die Erleuchtung, Erklärung, Klarheit – und Wahrheit?
Ich glaubte es zu wissen, konnte es aber nicht mehr in Erinnerung rufen. Mich bedrängte das uns allen bekannte Gefühl, einen Namen nennen zu wollen, der einem auf der Zunge liegt, der aber einfach nicht über sie hinaus will. Es war zum Verzweifeln. Nur handelte es sich eben nicht um irgendeinen Namen, sondern um einen Teil meiner Vergangenheit, meiner Geschichte, ja, ich vermutete sogar um ein wichtiges, prägendes Erlebnis in meiner Jugend: vielleicht sogar um ein Schlüsselerlebnis! Doch eben – trotz aller Ahnungen war es nicht Teil meiner persönlich gehegten und gepflegten Geschichte geworden, sondern wurde irgendwann ausgespart, auf die Seite des Vergessens gelegt. Ende. Aus. So sehr ich mich bemühte: Es tat sich nichts … es kam nichts … jedenfalls nichts Wesentliches. Wie es dazu kam? Annette Winter, meine Freundin, hatte mir beim Frühstück mit vollem Mund und mit den Worten:
«Da, lies einmal, betrifft vielleicht sogar dich und deine so monströs mythologische Internatsvergangenheit»
ihre aufgeschlagene Zeitung – die NZZ von gestern natürlich, denn so früh wird bei uns auf dem Lande die Post nicht ausgetragen – zugeschoben, eine Doppelseite schwarzgerahmter Kästchen voller schwarzer Lettern, ein Grundbuchplan des Todes: alles Todesanzeigen. Auf meinen irritierten Blick die knappe Zugabe
«Auf der rechten Seite, links in der Mitte», worauf ich auf die folgenden Zeilen stiess:
Ich klage um
Johnny Hünger
vor drei Tagen verschieden und seit 25 Jahren tot
Darüber das Motto:
Vergangen, vergessen,
In Wahrheit nichts.
Die im Leben erinnern
Und daran sterben,
Warten auf Dich,
Oh, rächender Gott.
Als trauernde Hinterbliebene aufgeführt waren:
Maria Hünger
und seine sechs guten
Internatsfreunde.
Tatsächlich nicht nur eine seltsame Anzeige, sie berührte, ja betraf mich auch seltsam: Denn klar und deutlich eingemeisselt in meiner Erinnerung war der Name – Johnny Hünger, Johnny Hünger –, nicht zu vergessen, irgendwie einmalig. Ebenso eindeutig bleibt der Ort, der sich mit dieser Erinnerung verband: das Internat, und zwar das Berginternat. Auch der Ort der Abdankung, die Kirche San Gian in Celerina, löste einiges in mir aus. Aber mehr? Was er sicher nicht war: ein Klassenkamerad oder gar mein Freund. Nein, das war Johnny – haben wir ihn wirklich so genannt? Nein, Hünger … einfach Hünger, das ist der Erinnerungshaken – nein, das war Hünger sicher nicht. Auch hatte er nicht mit uns abgeschlossen, nein, ins Talinternat zog er nicht mit … vielmehr musste er irgendwie, irgendeinmal in früheren Jahren verschwunden sein. Achteinhalb Jahre Internat sind eine lange Zeit, und das Erinnerungsvermögen an die einzelnen Jahre ist sehr unterschiedlich.
Bei diesen Gedanken überfiel mich wie von hinterrücks dieses starke Ohnmachtsgefühl: Da war etwas, da war noch etwas … aber was? Und wann genau? Auch das nicht abrufbar: Hünger kam einmal und ging dann wieder, dann … so ungefähr zwischen dem dritten und dem fünften Jahr – im sechsten wechselten wir ins Talinternat – musste er mit uns gewesen sein. Aber mehr? Nichts, vergessen – wirklich nur vergessen? Aber da war etwas, zweifellos.
«Und?» bohrte Annette bereits, wie immer etwas zu früh und zu drängend. Doch ich, wohlerzogen und von einigen Frauen im Laufe der Jahre domestiziert, also gleich:
«Johnny Hünger … zweifellos mit mir im Internat … ein Zufall, dass du die Anzeige entdeckt hast, und deine Intuition hat dir einmal mehr recht gegeben … aber mehr weiss ich beim besten Willen nicht … und ich habe ihn … es kommt nicht … eben vergessen … oder was weiss ich», letzteres für mich, leiser.
Annette, stets etwas zu neugierig und wie immer leicht aufgeregt, wenn es um Neuigkeiten ging, warf ihren Kopf, besser ihren Schopf, reines Naturrot, trotzig zurück:
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