Hier lag das anders, und es galt, sich etwas vorzubereiten. Womit musste ich rechnen? Mit der Mutter oder dem Vater, eventuell einem oder einer Verwandten, wenig kommunikationsfreudigen und auch nicht ausdrucksgewandten Berglern, vielleicht sogar langsam im Verstehen, aber sicher im Reagieren. Und insbesondere allem Unbekannten und meinem Stadtdialekt mit Misstrauen begegnend. Mehr noch, falls die Mutter oder der Vater ans Telefon kämen, musste ich mit Menschen im Alter von mindestens siebzig Jahren rechnen. Wie vorgehen? Sich vorstellen, als Internatsfreund, der kürzlich von Lento gehört habe – nein, zu gefährlich bei eventuellen Rückfragen –, besser, einfach Interesse an der Person Lentos äussern, den Wunsch, einen verlorenen Kontakt wieder aufzunehmen.
Gerade Letzteres wäre auch nicht ganz ohne realen Hintergrund: Vor einigen Jahren verbrachte ich im Dorf des Berginternates eine Woche Skiferien bei allerdings sehr spärlichen Schneeverhältnissen, und zwar so ziemlich allein. Auch wenn ich sonst durchaus gesellig bin, kann es dann mitunter vorkommen, dass ich praktisch eine Woche lang ausser mit dem Kellner im Speisesaal, dem Concierge und vielleicht noch dem Hoteldirektor, und auch da nur kurz, mit niemandem spreche, keinen Kontakt suche, ja eigentlich Hemmungen habe, mich jemand anderem persönlich zu nähern oder gar zu öffnen. In diesem Dorf mit «meinem» Internat und den vielen Erinnerungen wurde ich noch stummer und überlegte nur hin und wieder, ob ich versuchen sollte, meine ehemaligen Lehrer zu besuchen. Als ein erster Versuch scheiterte, weil die Klara Steffen, unsere zwar nicht geliebte, aber doch recht geachtete Englischlehrerin, wegen eines Herzanfalls kurzfristig hatte ins Spital eingeliefert werden müssen, gab ich das Vorhaben auf. Nicht ohne einen Kartengruss und ein Osterei – es war um Ostern – ins Spital zu schicken.
Offensichtlich noch immer unter dem Kommunikationsdefizit leidend, kam mir dann Lento in den Sinn, der einzige Externe, mit dem mich etwas mehr verband. Und so fuhr ich in sein Dorf, seinen Wohn- und Heimatort, wo ich selbstverständlich mit einer Vielzahl von Oggiers im Telefonbuch konfrontiert wurde, so dass sich das Anrufen kaum lohnte.
Doch ich gab nicht auf. Ich hatte ja Zeit, die einmal nur für mich da war und die ich mir irgendwie auch schuldete. So sass ich dann in der Dorfwirtschaft, wiederum allein, weil es noch zu früh am Nachmittag war. Auf meine Frage nach Lento Oggier, erhielt ich zwar verständlicherweise keine vernünftige Antwort von der italienischen Serviererin, aber auch nicht von der Wirtin, etwa mein Alter, Unterländer Dialekt, wahrscheinlich zugeheiratet, wenn auch, den Fältchen um Augen und Mundwinkel, den rau-roten Händen nach zu schliessen, nicht erst gestern, sondern vor zehn bis fünfzehn Jahren. Mit andern Worten: Sie kannte den wilden Lento Oggier, den berühmten Jäger, Schmuggler, Kletterer, den wortkargen Samstagssäufer und -schläger nicht, was eben hiess, dass er längst ausgezogen, irgendwo im Unterland oder vielleicht sogar im Ausland schwer erreichbar war. So beinahe systematisch vorbereitet, wählte ich die neue Nummer von Lentos Eltern an, wobei es mir nicht wohl zumute war.
«Oggier hier», meldete sich eine ältere, sehr brüchige Frauenstimme. Dann ich, betont langsam:
«Hier Fritz Wyl, entschuldigen Sie die Störung. Ich bin ein alter Internatsfreund von Lento, ihrem Sohn. Könnte ich ihn sprechen, oder können Sie mir seine Telefonnummer, seine Adresse geben, ich müsste etwas mit ihm bereden.»
Ich redete ohne Pause, wobei es auch nicht den Anschein machte, als ob sie mich unterbrechen wollte – denn als ich ausgeredet hatte, blieb es still, keine Reaktion, keine Antwort.
«Haben Sie mich verstanden, Frau Oggier … sind Sie noch da?» Da plötzlich:
«Was wollen Sie mit Lento besprechen?» flüsterte sie beinahe unhörbar.
Ich verstand sie kaum, erriet aber ihre Worte dem Sinne nach. Nun galt es zu improvisieren:
«Ein Klassentreffen, ich, wir, das heisst meine Kollegen, möchten ein Klassentreffen organisieren … es wäre schön, wenn Lento auch dabei sein könnte!» fügte ich langsam und deutlich hinzu. Wieder Stille, immer noch Stille. «Die Telefonnummer … wäre es Ihnen nicht möglich, mir diese …»
«Reden Sie mit seinem Bruder, mit Reto», unterbrach sie mich schroff und nun auch klarer verständlich.
«Und wo?» gab ich zurück, worauf sie antwortete:
«Dem Lehrer, im Internat, und jetzt lassen Sie uns, bitte», und mit einer recht deutlichen Betonung des letzten «bitte» war die Verbindung auch schon unterbrochen. Was blieb, war das kontinuierliche Summen an meinem Ohr. Nun, das war fürs Erste gar nicht schlecht, wenn mich auch die Reaktion etwas erstaunte: Sein Bruder, Reto Oggier, wusste sicher Bescheid, und er war offenbar Lehrer im Berginternat. Seine Adresse liess sich leicht ermitteln, durch Anrufen im Internat oder, falls er im Dorf wohnte, im Telefonbuch.
Das Telefon schrillte. Es war Annette:
«Mein Lieber», obwohl beinahe fünfzehn Jahre jünger, hatte sie bei mir ab und zu den Mutterton drauf: «Mein Lieber, ich weiss nicht, was du getan hast, aber ich habe etwas getan, und jetzt wirst du gleich staunen.»
«Wie oft, wenn ich in den Genuss komme, mit dir zu sprechen! Aber auch ich bin nicht gerade untätig gewesen, wer beginnt?» Und ihre Antwort musste der psychologischen Wahrscheinlichkeit nach auch lauten:
«Du natürlich.»
«Also: Lento habe ich nicht erreicht, jedoch seine Mutter, die mich an seinen Bruder verwies – einen Reto, Lehrer im Berginternat … was vielleicht auch sonst noch von Interesse sein könnte.» Ich beschrieb ihr noch kurz meinen Eindruck von der Mutter und gab ihr das Stichwort:
«Und du?»
«Du wirst staunen.»
«Sagtest du bereits, aber warum?»
«Ich bin im Presse-Café und habe, ohne besondere Absicht, noch die BZ und den Bund von gestern durchgesehen. Was sehe ich da? – Die gleiche Todesanzeige in beiden Blättern. Dann liess ich mir – sie hatten sie Gott sei Dank noch nicht weggeworfen – sämtliche greifbaren Zeitungen von gestern bringen, und nun kommt das Verwunderliche: In sämtlichen verfügbaren Lokalzeitungen, ob aus Winterthur, Biel, Olten, aber auch in der Tribune, in welchem Blatt auch immer, die gleiche seltsame Todesanzeige, die Stichprobe lässt auf eine beinahe vollständige Abdeckung in der Schweiz schliessen. Warte, denn nun kommt der Clou: Ich hab mir noch die heutigen Samstagsausgaben zu Gemüte geführt … und wieder in sämtlichen verfügbaren Blättern noch einmal die gleiche Todesbotschaft von Marie Hünger. Das dürfte sie doch Tausende, vielleicht sogar Zehntausende von Franken gekostet haben.»
Das folgende Gespräch drehte sich um die mutmassliche Absicht, welche die Witwe Hünger mit dieser eigentlichen Todesverkündungskampagne ihres Mannes hegen mochte; denn dies war nicht nur inhaltlich keine gewöhnliche Todesanzeige, äusserst seltsam war auch der deutliche Wille, im Inseratenraum der Schweiz – oder gar noch weiter herum – derart präsent zu sein, dass alle Leser, oder eben vielleicht – und das war natürlich sofort die Theorie von Annette – einer oder einige wenige Leser die Anzeige mit Sicherheit sahen und mit dieser besonderen Todesanzeige konfrontiert wurden. Annette sah das klar: «Selbstverständlich sind es nicht einer oder zwei, sondern eben eine bestimmte Anzahl Leser! Sie sagt es ja selbst. Ich glaube, sie will die sechs guten Internatsfreunde ihres Mannes aufspüren. Das liegt doch auf der Hand. Du solltest dich melden.»
«Erstens bin ich da nicht so sicher, und zweitens warten wir jetzt zuerst Lentos Reaktion ab», entgegnete ich, weil mir das ein eher seltsamer Weg zur Kontaktaufnahme mit Freunden schien. In der Regel kennt man doch die Adressen von Freunden oder kann sie eruieren, auch wenn es einige Zeit her ist, wie in Lentos Fall. Darüber hinaus, obwohl mir «dr Hünger» nach wie vor im Dunkeln blieb, konnte ich ihn nicht mit derart vielen Freunden in Verbindung bringen. Überhaupt sind für Internatsverhältnisse mehrere Freunde selten, und der Unterschied zwischen Freund und Kollege wird einem da sehr bald und sehr präzise bewusst. Und hätte es zumindest einen oder zwei meiner Freunde oder guten Kollegen darunter gehabt, dann hätte ich mich auch heute besser erinnern können – es sei denn, das Ganze war ganz anders, und Annette hatte mit ihrer Jugendschuldthese recht. Dann allerdings …
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