«Du, ich sollte noch einmal telefonieren, dringend. Es ist etwas Schlimmes mit Mäges geschehen – bitte warte noch. Ich werde dir gleich alles erklären, sobald ich angerufen habe.»
Annette, immer noch verschlafen, sanft, und das war nicht ihre normale Art, setzte sich still aufs grüne Sofa, indes ich nach kurzem Suchen der Nummer in meinen Flugunterlagen den Tower in Samedan anrief. Der war noch besetzt, und jemand meldete sich prompt. Sie erkannten mich von den vielen Heimwehflügen sofort wieder. Dann sagte ich unvermittelt: «Habt ihr ihn schon gefunden?»
«Wen?»
«Natürlich Max Rubli in seiner Piper Aztec .»
«Sie wissen, dass wir keine Auskünfte geben dürfen.»
«Sicher, aber ich bin orientiert, ich habe ihn in Bern erwartet», verdrehte ich leicht die Wahrheit.
«Weil Sie es sind und unter uns: sie suchen zwar noch. Aber eine King Air auf einem Taxiflug von Agno nach Innsbruck hat Signale aufgefangen, so dass für uns leider kein Zweifel mehr besteht. Die Frage ist nur, ob es unserem Heli gelingt, das Wrack noch vor der Dunkelheit zu orten, das wir im Julier-, Piz Lagrev-Gebiet vermuten. Das Ganze ist für uns unverständlich und entsetzlich. Kein Ton von ihm am Funk! Aber bitte zu niemandem ein Wort. Es ist Sache der Polizei, über den Unfall zu berichten. Und nun muss ich an den Funk. Auf Wiedersehen.»
Damit waren meine Vermutungen erschreckende Wirklichkeit geworden. Ich versuchte zu schlucken, denn irgendwie war da alles in mir vertrocknet. Ich ging wortlos in die Küche, obwohl mich Annette, die nur meine Worte mitgehört hatte und daher nur ahnen konnte, worum es ging, mit fragenden Augen ansah, goss mir ein grosses Glas Mineralwasser ein und trank es in einem Zuge aus. Wieder zurück bei Annette berichtete ich ihr dann alles, was ich bereits sicher wusste, aber auch meine Überlegungen zur Ursache und zum mutmasslichen Verlauf des Unglücks. Sie sah mich dabei mit grossen Augen an und wurde immer ernster. Das Spielerische in ihrer Neugierde, das bisher im ganzen Hünger-Fall ihren Ausdruck geprägt hatte, war wie weggewischt. Ihre Zwischenbemerkungen, Fragen klangen anders, überlegter, vorsichtiger, ja beinahe etwas furchtsam. Und als ich geendet hatte, sagte sie dann auch leise:
«Du, ich habe Angst.»
Ich setzte mich zu ihr aufs Sofa. Schweigend sassen wir da und grübelten vor uns hin. Ich stellte mir vor, wie Mäges, nachdem er die Piste 28 überquert hatte, den langen, etwas schmalen Taxiway in Richtung Bever hinunterrollte, wie bereits unzählige Male zuvor, vielleicht etwas unaufmerksamer als sonst. Zwar standen alle Motoreninstrumente im grünen Bereich, zeigten Standardwerte an, nichts Aussergewöhnliches also … es sei denn der ihn ablenkende Nachhall des Gesprächs mit der Witwe Hünger. Ich ging jetzt ganz davon aus, dass dieses stattgefunden und er es vor einer knappen Stunde beendet hatte. Seine Erinnerungen an früher, die plötzliche Nähe von scheinbar Vergangenem mögen ihn aufgewühlt haben, vielleicht ebenso die Trauer der Witwe Hünger, ihr gelebtes Leid. Oder war es noch etwas mehr? Etwas, das ich mir mit meinem Blackout nicht vorstellen konnte?
Beim Start liess Mäges, wie schon Hunderte Male zuvor, die Motoren auf Touren kommen, überprüfte Magnete, Propeller und Instrumente, um anschliessend die Start-Checkliste durch zu beten. Mag sein, dass ihm in diesem Moment auffiel, wie trocken sein Mund, wie pelzig sich seine Zunge anfühlte oder dass irgendeine andere Änderung in seinem Körper vorging, die er allerdings nicht als gravierend beurteilte. Beim Eindrehen auf die Piste mochte ihm ein leichter Schwindel oder eine Schwere des Kopfes aufgefallen sein, dem er, weil dies hin und wieder bei raschen Drehungen auftreten kann, keine weitere Bedeutung zumass. Auch war er nun viel zu sehr mit dem Startvorgang befasst, um darüber nachzudenken: Mensch und Maschine werden da vorübergehend eins. Der Lärm der hochdrehenden Motoren, die Vibrationen waren sozusagen in ihm selbst, wie wenn er selbst zum Flugzeug geworden wäre.
Nachdem das Fahrwerk eingefahren, die Steigleistung gesetzt, Richtung und Steigwinkel ausgetrimmt waren, mag ihm plötzlich wieder der Schwindel, die Müdigkeit aufgefallen sein. Augen schliessen, Kopf drehen und tief ein- und ausatmen – sie blieben trotzdem. Ja, sie schienen noch stärker als zuvor. «Vielleicht sind das Probleme mit der Höhe», mag er gedacht haben. Mäges nahm daher, vielleicht bereits etwas schwerfälliger als gewöhnlich, denn er hatte Mühe, sich zu konzentrieren, die Sauerstoffmaske aus der Tasche, schloss sie an, streifte sich die Mundmaske über und zog den entsprechenden Knopf. Keine Wirkung – im Gegenteil, irgendwie fühlte er sich schwer, schwerer, müde und schwindlig zugleich.
Ein Blick auf den Höhenmesser: 11 500 Fuss, also Zeit für die Kurve nach rechts, auf Kurs Richtung Bern – oder vielleicht doch besser gleich zurück ins Tal. Denn das war nun tatsächlich nicht normal. Ja, er fühlte sich zunehmend müde und hatte bereits Mühe, die Instrumente in der Kurve zu koordinieren. Daher dachte er wohl: Am besten «level off» und in einer grossen Linkskurve zurück ins Tal, wieder landen, und zwar auf Piste 10, so schnell als möglich, denn so geht das wirklich nicht!
Doch nur mit grosser Mühe konnte er noch die notwendigen Handgriffe durchziehen, denn es fiel ihm nun immer schwerer, die Augen offen zu halten. Darüber hinaus drehte sich zunehmend alles, und die Instrumente begannen vor seinen Augen zu verschwimmen. Herrgott, ich bin in Absturzgefahr, realisierte er irgendwie noch ganz klar. Es gelang ihm nicht mehr, gegen die schwindelnde Schwere anzukämpfen. Am besten oben bleiben und Richtung Bern!
Mit grösster Mühe drehte er das Flugzeug wieder auf Kurs 290, drückte den Autopiloten, damit die Maschine Kurs und Höhe halten würde. Dann hat Mäges wohl sein Bewusstsein verloren. Es kann sein, wenn ihm das alles noch gelang, dass er dabei den Trimmknopf oder den roten Auslöseknopf auf dem Steuerhorn berührt hatte und damit den Autopiloten wieder ausschaltete. Ohne sein Zutun senkte daher die Maschine leicht die Nase und begann einen flachen Sinkflug in Richtung der Berge, eben in die Flanke des Lagrevs zum Beispiel, die er in dieser Reisehöhe nur sehr knapp überflogen hätte.
So etwa könnte es gewesen sein. Vielleicht auch anders. Aber nur ein plötzliches, starkes Unwohlsein könnte mir den Absturz von Mäges plausibel erklären. Ein Fall für den Gerichtsmediziner auf alle Fälle. Das heisst in ein bis zwei Jahren werden wir es wissen, wenn der offizielle Unfallbericht publiziert wird.
Doch wissen sollte ich es eigentlich heute, ja, und zwar dringend, dachte ich. Denn irgendwie fühlte ich, dass es bei diesem Absturz nicht mit rechten Dingen zuging, und falls Mäges Frau Hünger besucht hatte, könnte es oder müsste es gar mit diesem Besuch zusammenhängen.
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