Die Gesichtszüge selbst liessen sich mit Ausnahme seines sichtbaren Lächelns nur erahnen. Die Belichtung des Fotos war hierfür zu schlecht. Immerhin, aus der Kopfneigung und -form, seinem Lächeln, der Haltung als Ganzes erschien er mir irgendwie weich, nachgiebig, ja sanft. Die Haarfarbe? Natürlich rot, Johnny Hünger war rothaarig, ganz bestimmt und … und hatte auch Sommersprossen. Das war es, was auf dem Bild fehlte, das so auffällig typische Haar Hüngers. Rot, jenes Rot wie … ja, genau wie jenes der Haare von Annette. Tatsächlich. Beide haben die gleiche rostrote Haar- und blasse Hautfarbe. Dies war zugleich das Stichwort für einen näheren Blick auf die Freundin – oder wer immer auch seine Begleiterin war. Wie ich zu diesem Foto gekommen bin? Warum besitze ich ein Foto von Hünger mit seiner Freundin? Wie alles um Hünger war auch hier die Antwort tief, tief versunken, und ich konnte mir selbst keinen Reim darauf machen.
Doch zurück zur Freundin oder Begleiterin, wie auch immer: weisse Bluse, schwarzer Jupe, über die Knie, weisse Handtasche und weisse Schuhe mit hohen Absätzen, soweit das ins Auge springende Äussere. Die Figur etwas mollig, gesetzt; zwar jung, aber nicht jugendlich, und ihr Gesicht, soweit auf dem Bild überhaupt erkennbar, rund, ja flach, zumindest keine prägnanten Konturen. Sonnenbrille, eine Dutzendfrisur und ein angedeutetes Fotolächeln liessen sie mir vollends als keinesfalls aussergewöhnliche oder gar extravagante Frau erscheinen, die ich, warum weiss ich nicht, schon eher bei Hünger erwartet hätte. Ja, auch auf dem Bild wirkte er im Vergleich zu ihr weitaus eleganter, wohingegen sie an eine Krankenschwester oder Hausdame eines Mädchenpensionates im Ausgang erinnerte.
Nun galt es an den Grund für meine Fotobetrachtungen zu denken: Welche Erinnerungen liessen sich durch das Bild aktivieren? Ich versuchte mich auf das Foto zu konzentrieren und zugleich die Augen zu schliessen, um auf Bilder meiner Eingebung zu warten. Nichts, einfach nichts – ausser eben der Erinnerung an seine roten Haare, seine Sommersprossen und seine blasse Haut.
Doch etwas war da, ein Gefühl, das ungute Gefühl nämlich, dass irgendetwas auf dem Bild nicht stimmte. Ja, tatsächlich, dies fühlte ich seit Beginn meiner Betrachtungen: da stimmte etwas nicht! Aber was? Nicht auszumachen. Die fotografierte Umgebung, die Freundin oder Begleiterin mussten sich ja auch meiner Erinnerung entziehen, denn mit meiner Internatsvergangenheit hatten sie ja wirklich nichts zu tun. Sein elegantes, ja beinahe weltmännisch-lässiges Auftreten – konnte es das sein? Oder der etwas weiche, sanfte Ausdruck? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Ich konnte mich eben wirklich nicht genau an ihn und seine Art erinnern. War er im Internat grundsätzlich anders, zum Beispiel schüchtern, unsicher und wenig attraktiv gekleidet?
Ich wusste es nicht, aber irgendwie hatte ich den Eindruck, dass dies nicht der Grund des unguten Gefühls sein konnte: Da war irgendetwas tiefer Gehendes, was mir auf diesem Bild falsch erschien. Oder war es etwa gar nicht Hünger? Noch einmal ein Blick durch die Lesebrille, doch trotz des kleinen und zu dunkel belichteten Bildes kam ich zum Schluss: Das konnte niemand anderes als Hünger sein!
Das ungute Gefühl, die Erinnerungsblockade, die ich immer empfindlicher verspürte, liessen mich nun mehr und mehr ärgerlich werden. Mit einigen ungeduldigen Bewegungen wischte ich die übrigen Fotos zusammen, verschloss sie wieder in der Schublade und ging mit dem Hünger-Foto zurück ins Grüne Zimmer. In dem Moment öffnete sich die Haustür, und mit viel Geräusch, Wehs und Achs, fand sich Annette wieder ein. Offensichtlich früher, als ich sie erwartet hatte; doch kein Zweifel, der Grund hierfür würde mir sicher bald bekannt sein. Nachdem sie ihre Einkaufstaschen und -säcke um sich hingestellt hatte, legte sie mir wortlos vier Zeitungen auf den Tisch, offenkundige Beweisstücke für ihre telefonisch gemeldeten Hünger-Inserate. «Schön, dich so früh wiederzusehen», hob ich an, «warum so früh?»
«Warum, warum. Wegen dir natürlich und deiner verknorzten Vergangenheit. Irgendwie lässt mich die Geschichte nicht los, und ich wollte so schnell als möglich zurück sein, um zu erfahren, was du inzwischen in Erfahrung gebracht, oder noch besser, ob du dein sagenhaft schlechtes Gedächtnis nun endlich etwas aufgefrischt hast. Es gelingt dir tatsächlich, Spannung zu schaffen!»
Das letztere klang bereits ziemlich vorwurfsvoll, wahrscheinlich allfälligen Vorwürfen meinerseits vorbeugend, wegen ihres voreiligen Anrufs bei Frau Hünger. Doch darum kam ich nicht herum:
«Mag sein, aber du trägst ja nicht unwesentlich zur Steigerung der Spannung bei. Trotzdem, ich habe nicht die Absicht, mich mit Frau Hünger zu unterhalten. Wie hast du sie überhaupt erreicht? Nur der Abdankungsort ist ja vermerkt, ihre Adresse nicht.»
«Sie, das heisst, Johnny Hünger, wohnt in Celerina. Und du? Was hast du denn in der Zwischenzeit getan?»
Ich berichtete ihr kurz über meine Liste der Internatsfreunde, meine Überlegungen hierzu, insbesondere zu Mäges, mein Telefonat mit dem FIO, und schliesslich zeigte ich ihr das Hünger-Foto, mit dem Hinweis, dass da etwas nach meinem Gefühl nicht stimmen könne. Sie vertiefte sich in das Foto, gab es mir zurück und wollte gerade zu einem Kommentar ausholen, als das Klingeln des Telefons uns beide zusammenfahren liess. Ganz offensichtlich waren unser beider Nerven ziemlich überspannt, denn sowohl für Annette wie für mich war das eine eher untypische Reaktion. Mit der Vorahnung, dass es bereits der Rückruf der Frau Hünger sein könnte, da ich am Samstagnachmittag selten oder nie Anrufe erhalte, bat ich:
«Nimm du es, falls es die Hünger ist!»
«Hier bei Fritz Wyl»
Und sofort deckte Annette den Hörer ab und flüsterte schnell: «Es ist sie tatsächlich.»
«Bin nicht da! Verreist! Und keine Diskussion!»
«Guten Tag, Frau Hünger. Mein Name ist Annette Winter. Ich habe angerufen. Fritz Wyl ist leider unerwartet verreist. Ja, bis Sonntagabend … aufgrund Ihrer Todesanzeige meinte, wollte er Sie noch anrufen … Ja … ja, leider. Nein, mehr weiss ich nicht … übrigens mein … unser herzliches Beileid. Ja … also, bis Montag, dann ist Fritz sicher wieder zurück, guten Tag, Frau Hünger.»
Nachdem Annette den Hörer aufgelegt hatte, bemerkte sie:
«Und nun?»
«Was und nun?»
«Ja, wie weiter? Was hast du vor?»
«Sagte ich doch schon; sobald Max Rubli aus dem Engadin zurück ist – wahrscheinlich in etwa zwei Stunden -, werde ich ihn anrufen, und dann wird sich alles klären.»
«Meinst du», erwiderte sie skeptisch und fügte hinzu: «Glaubst du nicht, es wäre an der Zeit, einmal über dich nachzudenken?» Was sollte das nun wieder? Was tat ich denn seit Stunden anderes, als mir das Gehirn zu zermartern, was da war, was sich da so sperrig in mein gegenwärtiges Leben drängte und doch so im Dunkeln verborgen blieb. Da – und doch nicht da! In meinem Ärger neigte ich zunehmend zu einem Aggressionsausbruch. Ich beherrschte mich aber und fragte betont gelassen:
«Wie meinst du das? Worüber soll ich nachdenken?»
«Über dich. Du überheblicher, nach allen Seiten abgesicherter Wirklichkeitsarchitekt. Über dich, mein Lieber!»
«Was soll der zynische Ton? Meinst du, die Geschichte lässt mich kühl? Im Gegenteil – ich denke ja pausenlos darüber nach, was da war – und sicher auch über mich und mein Blackout. Der Ton von Klara Steffen klingt mir ja noch in den Ohren: ‹Dass du es wagst, nach Hünger zu fragen, gerade du.› Was soll das, Annette?»
«Ich meine es nicht so, sondern weitaus grundsätzlicher.»
Oho, die Hünger-Geschichte sollte ihr wieder einmal als Anlass für eines ihrer beliebten Analysegespräche dienen, und mit ihrem Lieblingspatienten, eben mir. Die sich daraus entwickelnden Diskussionen, die sich nach allen Seiten wandten und krümmten und kaum ein Ende fanden, waren früher Beziehungsalltag, aber in letzter Zeit eher spärlicher angesagt. Da die unerwarteten Vertiefungen und intellektuellen Nuancen, welche diesen Gesprächen doch einen gewissen Reiz gaben, auch eher seltener wurden, versuchte ich, sie immer öfter im Keime zu ersticken, so auch heute.
Читать дальше