„Warte! Mrs Cooper sagte, sie haben Bonnie zu ihren Großeltern gebracht. Sie wartet auf dich.”
Blue fuhr herum. Den messerscharfen Blick durch die schwarzen Strähnen, die ihm über die Augen fielen, kannte Frank schon.
„Mit Speck fängt man Mäuse”, meinte Blue bitter.
„Es ist wahr!”, beteuerte Frank.
Blue blieb misstrauisch. „Gestern Abend hast du das noch nicht gewusst? Oder heute früh?”
„Nein. Als du weg warst, habe ich die Polizei angerufen. Der Officer hat sich mit Mrs Cooper in Verbindung gesetzt. Sie hat mir die Hölle heiß gemacht wegen deiner Flucht und so. Kurz darauf rief sie mich zurück und erzählte mir, dass Bonnie vorgestern bereits mit einer Betreuerin aus dem Heim nach Pine Ridge zu ihren Großeltern gefahren sei. Ich habe nicht einmal gewagt zu fragen, wer Bonnie ist.”
„Hm!” Blues Gedanken arbeiteten.
Frank wartete schweigend auf eine Entscheidung.
„Ich traue euch nicht. Ihr wollt mich reinlegen”, entgegnete Blue schließlich kühl.
„Wenn du nicht mit mir kommst, wirst du es nie erfahren. Was hast du zu verlieren?”
„Meine Freiheit.”
„Die wird dir niemand nehmen. Bonnie nicht und deine Großeltern am wenigsten. Du kannst nur etwas gewinnen.”
Frank holte tief Luft, bevor er weitersprach: „Sollte Bonnie nicht dort sein, überlasse ich dir die Entscheidung.”
Frank reichte Blue seine Hand, als galt es einen Vertrag zu besiegeln. Blue überlegte einige Augenblicke, dann schlug er ein. Trotzdem verschwand das Misstrauen nicht aus seinem Gesicht.
„Wir werden sehen!“, murmelte er zögernd.
Kapitel 3
Die Farben der Sonne
Walter McKanzie, genannt Blue Light Shadow, stand hinter den Glasfenstern des Gary Chicago International Airport. Er starrte abwesend hinaus. Die Lichter verblassten in der Morgendämmerung. Walter hatte die Hände tief in den Hosentaschen vergraben und schien angespannt. Schweigend beobachtete er die startenden und landenden Maschinen. Es gab kein Zurück mehr. Frank hatte noch vor Mitternacht zwei Plätze in einem Hawker 4000 Business-Jet reservieren können. Als geschäftstüchtiger Anwalt war er sehr oft mit verschiedenen Firmenflugzeugen unterwegs und pflegte seine Beziehungen. Die Beleuchtung wich dem Tageslicht. Der neue Tag war unweigerlich angebrochen. Die Nacht war viel zu kurz gewesen. Blue war noch müde und ihm fröstelte. Frank kam mit zwei Kaffeebechern zurück und gab seinem Sohn einen davon. Der heiße Kaffee tat gut. Er wärmte nicht nur die Hände. Als sie ihn ausgetrunken hatten, sah Frank schließlich auf die Uhr.
„Komm, Blue. Es wird langsam Zeit. Wir müssen zum Business Terminal. Unsere Maschine steht bereit.”
Blue folgte Frank. Etwa eine halbe Stunde später betraten sie den Asphalt. Eine weiße Hawker mit rot-schwarzem Seitenstreifen parkte vor der Glastür wie ein Taxi. Die Tür öffnete sich automatisch und die frische Morgenluft begrüßte Blue. Er atmete tief durch. Misstrauisch nahm er die kleine Maschine, die sie von der großen Stadt Chicago nach Rapid City bringen sollte, in Augenschein. Er zählte ganze sechs Fenster und sie war, seiner Meinung nach, alles andere als ein Jet. Die Angst, dort hineinzusteigen, war nicht geringer als die vor den Aufzügen. Schweigend presste er die Lippen zusammen, als wollte er sich selbst damit zum Schweigen zwingen. Sein Stolz, der ihn hinderte, diese Angst zuzulassen oder gar zuzugeben, überwog. Zögernd folgte er Frank. Der sah sich lächelnd nach ihm um und stellte fest: „Du bist noch nie geflogen, was?”
„Mehrmals”, antwortete Blue trotzig und ging einen Schritt schneller voran.
Franks Lächeln ging in ein breites Grinsen über. Schweigend stiegen sie ein. Blue bekam einen Fensterplatz zugewiesen. Er weigerte sich, hinaus zu sehen. Lautlos ließ er sich in den Sitz gleiten, lehnte sich nach hinten und schloss die Augen. Seine Gedanken begannen zu wandern. Egal was passiert, ich will Bonnie wiedersehen, sprach er in Gedanken zu sich selbst, ohne dabei die Lippen zu bewegen. Er öffnete die Augen auch nicht, als die Maschine startete und abhob. Noch immer kämpfte er gegen seine Angst, die ihm ein ungutes Gefühl in der Magengegend bescherte. Die Ohren verspürten einen unangenehmen Druck und begannen zu rauschen. Ihm war schwindlig.
Vor seinen Augen sah er den alten Mann mit den grauweißen Zöpfen auftauchen. Walter, der sich Blue nannte, dachte noch: Was willst du schon wieder hier? Dann öffnete er rasch die Augen. Ein vager Blick in Richtung Fenster zeigte ihm ein weißes Wolkenmeer, von der Sonne bestrahlt.
Nachdem das Flugzeug unbeschadet am Rapid City Regional Airport gelandet war und Walter festgestellt hatte, dass er noch lebte, folgte er Frank durch die Eingangshalle. Auf Gepäck mussten sie nicht warten. Sie hatten keins. Walter blieb vor den Glasvitrinen stehen und starrte förmlich auf die Auslagen, in denen indianische Kleidung und Artefakte lagen. So etwas hatte er noch nie gesehen.
„Ist das hier ein Museum?”, fragte er Frank.
„Ja, so ähnlich. Die Ausstellungsstücke sind wie ein Mahnmal, um uns daran zu erinnern, was hier gewesen ist.”
„So? Was ist denn hier mal gewesen?”
„Indianerland.”
„Und?”
„Harte Kämpfe um die Black Hills und ums Überleben. Die Schwarzen Berge sind den Sioux heilig, schon immer. Das Geistertanzhemd da stammt zum Beispiel aus der Zeit, als die Dakota besiegt waren und in Reservate verfrachtet wurden. Es war die letzte Hoffnung dieses untergehenden Volkes der freien Prärieindianer. Mit diesen Geistertanzhemden haben sie getanzt und um Hilfe gefleht.”
Blue lachte amüsiert. „Tanzende Geister? So was Bescheuertes.”
Frank schwieg.
„Da habe ich mich ja auf was eingelassen. Ich hoffe, sie verlangen nicht von mir, dass ich solche Klamotten anziehe und mit ihnen herumhopse.”
„Ich denke, du hast da ganz falsche Vorstellungen. Im Übrigen sind sie damals alle zusammengeschossen worden. Jetzt komm! Wir müssen den Mietwagen in Empfang nehmen.”
Franks Wahl fiel auf einen schwarzen Chevrolet. Er zahlte mit seiner Kreditkarte, ließ sich den Schlüssel aushändigen und fuhr, ohne Zeit zu verlieren, mit Walter ostwärts. Die Sonne spiegelte sich auf dem Hochglanzlack. Frank McKanzie hatte seinem Sohn eine gute Sonnenbrille und ein weißes Baseballcap spendiert. Der hatte das Radio unter seine Kontrolle gebracht und gab sich schließlich zufrieden, als er den passenden Sound fand, der ihm gefiel. Er klopfte den Takt mit den Fingern auf den Knien mit. Dann begann er mitzusingen und er sang erstaunlich gut. Frank beobachtete ihn aus den Augenwinkeln und lächelte, denn die misstrauischen Züge schienen endgültig zu schwinden.
„Wollen wir was essen?”, fragte Frank schließlich.
Blue nickte. „Klar! Warum nicht?”
Frank bog zu der kleinen Tankstelle, am Ortsausgang Farmingdale, direkt am Highway vierundvierzig, ein. Dort stoppte er den Mietwagen und zog den Schlüssel.
„Du traust mir immer noch nicht?”, fragte Blue, als er seinem skeptischen Blick begegnete. Frank holte tief Luft, bevor er antwortete. „Du hast den ersten Schritt getan. Ich glaube, jetzt ist es an mir, dir ein Stück entgegenzukommen.”
Blue grinste und stieg schweigend aus. Frank folgte ihm.
Ein riesiger Hot Dog am Eingang warb um die Gunst der Reisenden. Countrymusik drang an ihre Ohren. Frank bestellte für sich einen Kaffee, für Blue eine Cola und Hot Dogs für beide. Drinnen war es voll, da sich jeder nach der Kühle der Klimaanlage sehnte. So steuerten sie mit ihrem Proviant auf einen der Stehtische, direkt neben dem Mietwagen, zu. Ein Sonnenschirm spendete Schatten. Frank schlürfte am heißen Kaffee während seine Brillengläser vom Dampf beschlugen. Er wartete, bis sie von allein wieder frei wurden.
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