Pierre sagte nichts. Er sah sie nur an. Dann war sein Gesicht plötzlich vor ihrem, seine Hand an ihrer Wange, seine Lippen drückten sich auf ihren Mund, seine Zunge drängte sich zwischen ihre Zähne, doch das war genug!
Sie wusste nicht, wie sie sich aus seiner Umarmung befreit hatte, aber als sie wieder klar denken konnte, stand Marie bebend vor der Couch, auf der Pierre saß und schuldbewusst zu ihr hochsah. »Was sollte das?«, fuhr sie ihn an.
»Entschuldige Marie, aber ich dachte …«
»Du dachtest was? Weißt du, was das für ein Schock war? Das war Vertrauensbruch, verdammt!«
Pierre war blass geworden.
»Entschuldige«, Marie strich sich fahrig die Haare zurück. »Entschuldige, Pierre«, sagte sie noch einmal, setzte sich wieder und legte ihre Hand an seine Wange. Pierre ließ den Kopf auf ihre Schulter sinken. Er tat ihr ja leid. Doch die tröstliche Geste war ein Fehler gewesen. Pierres Lippen suchten ihren Hals.
»Nein«, sagte Marie erschrocken und drückte seinen Kopf mit beiden Händen von sich.
»Warum nicht?«, fragte Pierre mit sehnsüchtigem Blick.
Marie konnte es ihm nicht sagen. Diese Welle des Widerwillens, die sie eben überkommen hatte, als seine Zunge nach der ihren suchte. Jetzt überkam sie diese Regung erneut. Sie ging schnell zum Wasserhahn und trank ein paar Schlucke. Sie wischte sich über den Mund. Pierre sah sie an. Er erwartete eine Antwort.
»Du bist mein bester Freund«, hob Marie an, »ich habe immer den besten Freund in dir gesehen, verstehst du?«
»Ich weiß, du hast Jahre lang nicht viel anderes gesehen als Sylvain und deine hoffnungslose Liebe für ihn. Sonst hättest du es bestimmt bemerkt. Dass ich dich liebe.« Pierre verstummte.
Oh nein. Er hatte es gesagt. Marie ging nervös im Raum auf und ab. Pierre fuhr fort. »Ja, ich liebe dich, und nicht erst seit gestern. Aber weil ich dich liebe, wollte ich dein Glück. Und wenn Sylvain dich glücklich gemacht hätte, hättest du niemals ein Wort von mir über meine Gefühle gehört. Die ganze Zeit, solange du darauf gehofft hast, dass ihr noch einmal offiziell zusammenkommt, habe ich durchgehalten, war einfach nur als Freund für dich da, obwohl ich davon überzeugt war, dass es mit euch nichts würde. Der Mann hat dich nicht verdient, Marie. Ich weiß, wie sehr du jetzt leidest, aber es war Zeit, dich von Sylvain zu befreien.«
»Aber wenn du weißt, wie es mir jetzt geht, dann musst du auch wissen, dass ich mich nicht von heute auf morgen neu verlieben kann. Auch nicht …« Sie verstummte. Die Finger des Deutschen, die sanfte Zufallsberührung, das geradezu elektrische Kribbeln … Für den Bruchteil eines Augenblicks war das plötzlich wieder da gewesen, im Gedächtnis ihres Körpers. Verwirrt sah sie um sich, wie jemand, der aus einem déjà vu erwacht. Ihr Blick fiel auf Pierre.
»Dann werde ich warten«, sagte er schlicht.
Marie sah ihn betroffen an. Sie konnte ihm keine Hoffnung machen. Etwas sagte ihr, dass sie ihn niemals lieben könnte – nie anders als einen Freund. Aber sie fühlte sich erschöpft, dermaßen erschöpft … Dann klopfte es an der Tür. Schicksalsergeben ging sie hin und öffnete.
»Hallo«, grüßte Florian, und als er den Womanizer hinter Marie sah, zu diesem: »Bonjour!«
Pierre zog die Augenbrauen hoch und deutete ein Nicken an; Marie schaute entnervt vom einen zum anderen.
»Ich wollte nur etwas abgeben«, wandte Florian sich an Marie und reichte ihr einen schweren, gelb-grünen Sack. »Für Ihre Hortensien.« Perplex nahm Marie den Sack entgegen. Düngemittel, las sie. Auf
so eine Idee konnte auch nur dieser Deutsche kommen. »Et bien, vielen Dank«, sagte sie hastig. Sie spürte förmlich, wie Pierres Blicke sich ihr in den Nacken bohrten. »Wie geht es der Hand?«, fragte sie trotzdem.
»Ganz in Ordnung soweit. Sie tut weh, aber der Verband hält.«
»Wenn sie anschwillt, können Sie sie kühlen. Mit Eiswürfeln in einem Tuch. Nicht zu lange, vielleicht zehn Minuten, zwei-, dreimal am Tag.«
»Okay, alles klar. Nochmals vielen Dank. Und schönen Abend noch, Ihnen beiden.« Er nickte, hob linkisch die verbundene Hand und ging schnell nach draußen.
»Schönen Abend noch, Ihnen beiden. Klasse Spruch. Fein gemacht, Florian, ganz hervorragend. Wollen Sie nicht das Ehebett ausprobieren? Peinlich, peinlich hoch zehn«, beschimpfte Florian sich selbst, während er langsam in Boris’ Haus zurückging. Er war nur froh, dass Olivier nicht mehr da war, um die Schmach als Zeuge mitzuerleben.
»Du hast gesagt, du kennst den Typ kaum«, brach es aus Pierre heraus, kaum dass die Haustür hinter dem Deutschen geschlossen war.
»Das stimmt auch«, trumpfte Marie auf. »Er hat meine Hortensien angefahren, wir haben uns gestritten und jetzt kauft er mir Düngemittel, na und?« Sie ließ den Sack Dünger neben der Tür auf den Boden fallen.
»Und seine Hand? Hast du die verbunden?«
»Dir ist klar, Pierre, dass man dazu verpflichtet ist, erste Hilfe zu leisten? Natürlich habe ich ihn verarztet. Er ist vom Dach gefallen und hat einen miesen Schnitt im Handballen!«
Pierre holte tief Luft. Dann stieß er hervor: »Mal ehrlich, Marie –
macht er dich an, der schöne boche ?«
Entgeistert starrte Marie ihren Freund an. »Dass du, mein bester Freund, solche Ausdrücke in den Mund nimmst, das hätte ich nie gedacht! Boche ! Das ist Kriegsvokabular! Ich meine, unsere Großeltern haben den Weltkrieg mitgemacht; wenn noch jemand aus deren Generation verbittert gegen die Deutschen ist – aber wir, wir sind doch eine andere Generation! Ich bin mit dem Schulaustausch in Deutschland gewesen, mehrere Male, ich fand es schön da und immer wurde ich herzlich aufgenommen!«
Pierre war blass geworden. »Scheiße, du hast was mit diesem Deutschen«, stieß er aus.
»Was?« Marie meinte, sich verhört zu haben.
»Ja, klar, wenn du die Deutschen so verteidigst.«
»Was ist das denn für eine Logik, das ist ja absurd!« Marie kochte vor Wut.
»Na gut, das ging zu weit«, räumte Pierre ein, »aber warum regst du dich dann so auf? Das mit dem boche ist mit nur so rausgerutscht. Außerdem beschönigst du die Tatsachen. Die Leute, die dich in Deutschland aufgenommen haben, mochten Franzosen, na gut; aber es gibt auch andere. Hast du nie von diesem Kriegstourismus gehört, der gerade boomt? Da kommen Touristen in die Bretagne und in die Normandie, nur weil sie scharf darauf sind, Nazi-Bunker und so etwas zu sehen! Zu sehen, und zu filmen, und zu fotografieren …« Marie schüttelte unwirsch den Kopf. »Ich habe davon gehört, ja. Soweit ich weiß, gibt es verrückte Engländer und Amerikaner, die so etwas machen. Von Deutschen habe ich so etwas noch nicht gehört, und diesen Florian zu so einem abzustempeln, geht zu weit, auch wenn ich ihn nicht leiden mag. Pierre, du hast mir heute enorm geholfen, aber ich bekomme gerade Kopfschmerzen und es ist besser, du gehst.«
Pierre sah sie ungläubig an. »Du wirfst mich raus?«
»Nicht böse gemeint, aber ja.«
Pierre stand auf. »Darf ich dich noch einmal in den Arm nehmen?«, bat er, als er schon an der Tür stand.
Es war Marie, die Pierre an sich zog. Sie hasste Streit, auch wenn manchmal ihr hitziges Temperament dazu führte, dass sie damit anfing. Sie standen eine Minute da, eng umschlossen, dann beendete Pierre abrupt die Umarmung. Marie ließ die Tür hinter ihm in das Schloss fallen. Ihr Blick fiel auf den Sack Blumendünger. Sie hob die Hand an den schmerzenden Kopf.
6. Folgen des Lambig
Florian fühlte, er würde keine Ruhe finden, obwohl er vollkommen fertig war. Aber was sollte er tun, so ganz allein tun? Es gab nur einen Menschen, von dem er sich vorstellen konnte, freundlich aufgenommen zu werden. Kurz entschlossen schnappte er sich das neue Wörterbuch und die Packung Rocher, die er für Yvonne Le Roux gekauft hatte, und ging sie besuchen.
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