Marie nickte ganz leicht, das musste ihm wohl genügen. Also nickte auch er und ging.
Sobald der Deutsche aus dem Haus war, stöhnte Marie auf. Zu viel Aufregung für einen Morgen. Und bald kam Pierre! Hastig räumte sie das Verbandszeug weg und ging duschen.
Draußen, im Hof vor Boris’ Haus, standen zwei alte Clios, einer weiß, der andere rot. Ein Mann und eine Frau warteten vor der Haustür. Nun kam der Mann, untersetzt und grauhaarig, auf Florian zu. »Monsieur Reinart?«, rief er. »Bonjour. Monsieur Rapp m’a téléphoné.«
Der Verwalter, es gab ihn wirklich! Er stellte sich als Monsieur Le Guern vor und die Frau als Madame Tanguy. Madame Tanguy würde putzen. Florian atmete auf. Zumindest etwas, das sich von selbst regelte.
»A propos, the roof is damaged«, Florian zeigte auf das Dach.
Der Verwalter und die Putzhilfe sahen sich an, dann ihn; dann ließ Le Guern etwas von »téléphoner« und »Monsieur Rapp« fallen. Na gut, das Dachproblem würde sich offenbar nicht so schnell und schon gar nicht von allein lösen. Florian senkte den Kopf und ging voran in das Haus.
»Salut, Marie!« Pierre Manac’h strahlte sie an und beugte sich hinunter, um ihr die bises zu geben. Er roch stark nach Aftershave.
»Du bist früh«, stellte Marie fest und schob ihn weg. »Willst du einen Kaffee?«
Pierre lachte. »Na, das ist ja eine schöne Begrüßung dafür, dass wir uns das letzte Mal vor einem Monat gesehen haben und ich zum ersten Mal in deinem Haus bin!«
Marie seufzte. »Ich weiß, ich weiß. Isabelle hat gestern auch schon die Gekränkte gespielt. Aber ich musste eben mal ganz allein sein.«
»Jetzt entschuldige dich bloß nicht. Ich versteh’ schon, was mit dir los war.« Er lächelte sie mitfühlend an.
Marie lächelte leise zurück. Das liebte sie so an ihrem besten Freund: Er zickte nie lange rum und war immer für einen da, wenn man ihn brauchte.
Sie führte ihn durch das Haus, erklärte ihm, welche Möbel zum Schrottplatz mussten und welche aus Brest zu holen waren und kochte ihm einen Kaffee. Er hatte sich extra frei genommen, ließ er beiläufig fallen; sie sah ihn dankbar und schuldbewusst und ein wenig forschend an. Manchmal wusste sie nicht genau, ob Pierre aus Freundschaft allein so immer für sie da war.
Florian fragte sich, was er mit seinem Vormittag machen sollte. Weggehen, solange die Putzfrau da war, wollte er nicht. Im Tagebuch seiner Oma lesen? Aber bei dem Brummen des Staubsaugers konnte er sich doch nicht konzentrieren, und er war obendrein hundemüde. Nun stoppte das Geräusch des Saugers und Madame Tanguy erschien, um vielsagend einen zum Bersten vollen Staubsaugerbeutel in die Höhe zu halten.
»Verstehe. Sie brauchen einen neuen«, interpretierte Florian die Geste. »Wait, please – attendre, s’il vous plaît!«
»Attendez«, korrigierte Madame Tanguy.
»Attendez«, murmelte Florian verlegen und huschte an der Putzfrau vorbei die Treppe hoch. Irgendwo in der Rumpelkammer hoffte er Staubsaugerbeutel zu finden.
Nachdem er tatsächlich fündig geworden war, verließ er mit dem vollen Beutel das Haus, um nach einer Mülltonne zu suchen. Er ging einmal um das Haus herum, aber da war keine. Als er mit seinem Beutel ratlos inmitten des Hofes stand, rollte ein schrottreifer VWBus Baujahr 1970 oder so langsam an ihm vorbei. Das Fenster auf der Fahrerseite war heruntergekurbelt, Florian konnte nicht anders, als hineinzusehen. Sein Blick kreuzte den eines Womanizers mit Locken und Dreitagebart. Auf dem Beifahrersitz saß Marie.
War ja klar, dass so eine Frau einen Freund hatte; aber so einen? Das war ganz klar einer von denen, die sich selbst am meisten lieben. Nun, was regte er sich auf? Konnte ihm doch egal sein, mit wem die sich abgab …
»Wer war der Typ mit dem Müllbeutel und dem bohrenden Blick?«, wollte Pierre wissen, nachdem er um die Kurve gebogen war.
»Der Nachbar. Ein Deutscher.« Marie zuckte die Achseln. Etwas hielt sie davon ab, mehr ins Detail zu gehen.
»Ist der okay?«, hakte Pierre nach. »Der guckte so komisch.«
»Ich kenne ihn kaum«, gab Marie ausweichend zurück.
»Ich mag keine Typen mit solchen Protzautos«, verkündete Pierre.
»Ich auch nicht«, sagte Marie entschieden, und das ließen beide so stehen.
»Schön ist Brest nicht«, stellte Pierre dann fest, als sie eine Dreiviertelstunde später durch das Zentrum der Großstadt fuhren. Elodies muffige Couch hatten sie unterwegs entsorgt; sie waren auf dem Weg zu Maries Wohnung.
»Nein, schön ist Brest nicht«, stimmte Marie zu. »Aber es ist voller Leben. Eine echte Studenten- und Arbeiter- und Hafenstadt, da langweilt man sich nie.«
»Soll die Rue de Siam nicht etwas verrucht sein?«, raunte Pierre.
»Unbedingt. Eine echte Hafenstraße. Wenn du brav bist, nehme ich dich mal mit.«
»Ist das ein Versprechen?«
»Wenn du darauf bestehst …« Marie lachte. Aber etwas störte sie heute an seinen Blicken, seinem Tonfall.
Sie hatten Glück, direkt vor dem Eingang des Häuserblocks, in dem Marie gewohnt hatte, fanden sie einen Parkplatz.
Das Gebäude sah von außen heruntergekommen aus, von innen war es in Ordnung gewesen. Marie hatte ihre Wohnung sowieso nur als Zwischenlösung angesehen (das allerdings seit Jahren). Die Wohnung aufzugeben, war jetzt nur schwer wegen der Erinnerungen an Sylvain. Wie oft war er heimlich bei ihr gewesen … Etwas von seiner Präsenz haftete noch an den fast gänzlich entleerten Räumen. Deshalb hatte Marie Angst davor, die erinnerungsgeschwängerte Wohnung nochmals zu betreten. Aber mit Pierre würde es gehen.
Mit Pierre und mit Kev, ihrem durchgeknallten Ex-Nachbarn. Der half ihnen, ihre Couch – ihre eigene, geliebte Kuschelcouch! – die drei Stockwerke hinunter zu schleppen. Die Couch war so groß, dass sie gerade mal so in den VW-Bus passte, Kühlschrank und Bett würden sie in einer Extrafahrt holen müssen. Aber damit hatte Pierre schon gerechnet.
»Dein Ex-Nachbar war komisch«, bemerkte er auf dem Weg aus der Stadt hinaus.
Marie lockerte sich Schulter- und Nackenmuskulatur und meinte: »Kev ist okay. Der lebt nur in zwei Welten gleichzeitig, ein bisschen in unserer und viel mehr in einer virtuellen. Der bräuchte eine Freundin. Jemanden, der ihn erdet und ihm einen Schubs in die richtige Richtung gibt«, analysierte Marie.
»Ja. Die richtige Frau an seiner Seite ist für jeden Mann wichtig, lebenswichtig«, betonte Pierre und sah Marie dabei durchdringend an.
Leicht irritiert hob sie eine Braue und gab ihrem besten Freund keine Antwort.
Florian sah auf die Uhr. Fast zwölf, er hatte schon den Eindruck gehabt, das Putzen würde niemals ein Ende nehmen. Doch nun war Madame Tanguy endlich fort, und er hatte Hunger. Er musste dringend einkaufen. Das Beste war, er fuhr dazu nach Telgruc. Und ja, dann konnte er dort auch nach dem Haus suchen, in dem die junge Marlene einst gewohnt hatte … Eine merkwürdige Aufregung überkam ihn bei dem Gedanken, das von seiner Oma Beschriebene, das bislang nur als Bild in seiner Vorstellung existierte, bald mit dem leibhaftigen Auge zu sehen.
Er wollte schon in den Porsche steigen, da rollte ein anderes Auto auf den Hof. Ein schwarzer VW Golf, nicht neu, aber gewienert. Wer war das? Irgendwie kam ihm der Fahrer bekannt vor.
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