In der Gerümpelkammer des Hauses hatte er eine Leiter entdeckt, er ging sie holen. Wieder im Garten, stellte er die Leiter an die Hauswand, nahm die Schieferplatten an sich und stieg hinauf.
Die Stelle mit dem Loch lag höher, als es von unten ausgesehen hatte. Florian musste bis auf die oberste Sprosse der Leiter steigen. Nicht nach unten sehen, beschwor er sich; er hatte Höhenangst. Das Dach war glitschig. Nun lag er bäuchlings darauf und spürte, wie die Nässe in seine Kleider kroch. Vorsichtig streckte er sich, so weit es ging, er wollte nicht durch falsche Bewegungen weitere Schieferplatten zum Fallen bringen. Die Platten waren in gebogene Nägel geschoben, aber diese Nägel waren verrostet. Behutsam schob er die erste Schieferplatte an ihren Platz. Sie hielt. Dadurch motiviert, schob er die zweite daneben. Prompt fiel ihm die erste entgegen und schlitterte an ihm vorbei das Dach hinunter. »Mist«, knurrte Florian zwischen den Zähnen und fing zumindest die andere auf. Er schob sie wieder nach oben, drückte – sie schien zu halten. Oder doch nicht? Aber sie musste! Mit einem Ruck stellte Florian sich auf die Zehenspitzen und drückte den rechten Arm durch, um die Platte mit etwas Gewalt unter die darüber liegende zu zwingen. Da rutschten seine Zehen von der Leiter; er suchte vergeblich Halt, stürzte …
Nach dem Aufprall auf dem nassen Erdboden fragte er sich kurz, ob seine bisherige Reparatur funktioniert hatte und wo die vom Dach geschlitterte Platte lag. Dann erst spürte er einen stechenden Schmerz im Handballen.
Marie hielt sich die Ohren zu, es half nicht. Das Bollern hörte nicht auf. Dann war sie wach genug, um zu verstehen, dass das Geräusch von der Tür kam. War das schon Pierre? Der wollte erst um zehn kommen. So spät konnte es noch nicht sein?
Sie raffte sich auf und ging nach unten. Müde öffnete sie dir Tür – kein Pierre. Aber sie sah gleich, was los war. Sie wollte nicht, aber es musste sein. Sie ließ den Deutschen hinein.
Der humpelte zum erstbesten Stuhl am Esstisch und ließ sich darauf fallen. »Yvonne Le Roux hat gesagt, ich soll zu Ihnen gehen«, erklärte er matt, wie zur Entschuldigung.
Ohne ein Wort zu verlieren, füllte Marie eine Schüssel mit warmem Wasser und griff sich ein sauberes Tuch. Sie schüttelte den Kopf, als sie das bakterienverseuchte Ding sah, das er sich um die blutende Hand gewickelt hatte, und entfernte den blutgetränkten Lappen mit geschickten Fingern. Aïe. Das sah schmerzhaft aus. Prüfend sah sie dem Deutschen in das Gesicht, es war weiß wie ein Laken. »Sie können kein Blut sehen«, stellte sie fest.
»Zumindest nicht meines.« Er stöhnte auf, als sie seine Hand bewegte, um den langgezogenen Schnitt durch den Handballen aus einem anderen Winkel zu untersuchen.
»Es ist nicht tief«, murmelte sie.
Florian zwang sich, auf seine Hand zu sehen. Alles voller Blut, er konnte da gar nichts erkennen. »Haben Sie das gesehen, ja?«, fragte er skeptisch.
Einen Moment lang sahen sie sich in die Augen. Abwesend bemerkte Florian, wie groß und dunkel Maries waren, mit langen, gebogenen Wimpern.
Marie lächelte grimmig. »Nicht weinen, das ist nicht tödlich. Ich wasche es aus… Et voilà. Nicht tief, sehen Sie?«
»Lieber nicht.«
Wortlos ließ sie seine Hand los und ging ins Badezimmer, um Desinfektionsmittel, Klammerpflaster und Verbandszeug zu holen. Das würde genügen, zu nähen war nichts. Das deutsche Ekel hatte wirklich Glück. Es war ihr Vater, der leidenschaftliche Arzt, der seinen Töchtern eingebläut hatte, man müsse stets Klammerpflaster und Verbandszeug im Haus haben.
Als Marie aus dem Bad zurückkehrte, hing der Deutsche buchstäblich in den Seilen, genauer über der Stuhllehne. Der wollte jetzt nicht auch noch ohnmächtig werden? Der musste reden, damit er bei der Stange blieb! Also wusch Marie die Wunde nochmals aus und begann dabei mit einem kleinen Verhör. »Was ist passiert?«
»Da war … Au! Da waren Schieferplatten herausgerutscht … Wasser im Haus … Ich bin hochgestiegen, um das zu reparieren … Aber ich bin abgerutscht und habe mich an etwas geschnitten, an einer scharfen Schieferplatte oder einem rostige Nagel oder was weiß ich … Alles ging so schnell. Ist die Verletzung schlimm?«
Er sah sie an, wie … Irgendwie hatte dieser erwachsene Mann etwas von einem kleinen Jungen. Pah, geschah ihm ganz recht. Marie setzte ein strenges Gesicht auf. »Die Hand muss – wie sagt man für amputer?«, fragte sie.
»Amputieren?! Ach so, kleiner Scherz, ja?« Florian versuchte, tapfer zu lächeln, auch wenn er Maries Humor etwas morbide fand.
Grimmig sah sie von den blauen Kinderaugen zurück auf die Wunde. »Ich tue das darauf«, sie hielt ihm die Flasche Desinfektionsmittel vor die Nase. »Achtung, das brennt«, kündigte sie mit einer gewissen Genugtuung an.
Die Hand in der ihren zuckte bei dem Kontakt des Wattestäbchens mit der Verletzung, aber der Deutsche gab keinen Laut von sich. Marie griff zum Klammerpflaster.
»Es tut mir wirklich leid mit Ihren Hortensien«, murmelte er jetzt und schaute sie treuherzig an.
Was war nur los mit ihr? Sie würde doch jetzt nicht auf diese Jammerlappennummer reinfallen und weich werden? Energischer als nötig klammerte Marie die Wunde zusammen, wobei der Verletzte zischend die Luft ausstieß.
»Sie denken vielleicht, wir sind nun Freunde, weil ich Sie verbinde, aber das ist nicht wahr! Sie haben meine Hortensien getötet und das ist Ihnen egal, in Wahrheit! Sagen Sie nicht das Gegenteil. Leuten mit solchen Autos glaube ich nicht! Und ich will sie nicht als Nachbar. C’est clair? Die Hand! Für den Verband!« Marie streckte wütend ihre Hand nach seiner aus; er hatte sie ihr vor Schreck entrissen.
»Die Hand«, wiederholte sie ungeduldig. Weil er sie ihr nur zögerlich reichte, berührten ihre Fingerspitzen sich plötzlich ganz leicht – und beide zuckten zurück. Verwirrt sahen sie sich in die Augen, dann beide gleichzeitig weg. Keiner der beiden kommentierte das durchkribbelnde Gefühl bei der Berührung. Kein Schmerzgefühl; damit hatte es nichts zu tun gehabt.
»Also, die Hand?«, fragte Marie vor Schock extra patzig.
Florian reichte sie ihr noch einmal. Beide atmeten auf. Vielleicht, weil Marie gleich kräftig zugegriffen hatte, kam es nicht noch einmal zu unpassenden Nebenwirkungen.
Was war das eben, fluchte Marie innerlich und konnte nicht umhin, beim Bandagieren zu bemerken, wie groß seine Hand in ihrer war, aber dennoch feingliedrig, mit für einen Mann merkwürdig zarten Fingern. Nicht die Hände eines Mannes, der damit arbeiten muss, folgerte sie – und ärgerte sich sofort über sich: Was ging es sie an, ob dieser Mann Bauarbeiter oder kein Bauarbeiter war? Marie schnaubte und zog den Verband allzu fest zu.
»Hey, geht das etwas behutsamer?«, brachte Florian heraus. Wie konnte jemand mit so kleinen Händen und geradezu zart aussehenden Fingern dermaßen brutal zupacken?!
Wütend funkelte sie ihn an, lockerte den Verband aber.
»Ist doch wahr. Eine deutsche Ärztin hätte mich vorsichtiger verbunden«, murmelte Florian entnervt. Warum konnte sie ihn immer nur böse anstarren?
Marie grinste und sagte sanft: »Ich bin Veterinär.«
Sie wechselten kein Wort mehr, bis der Verband befestigt war. Endlich stand der Deutsche auf und ging zur Haustür. Er hielt
schon die Klinke, wandte sich aber noch einmal um. »Hören Sie«, begann er, »Sie haben mir geholfen, dabei wissen Sie gar nicht, wer ich bin. Mein Name ist Florian Reinart. Und Sie heißen Marie, nicht wahr?« Er wartete auf eine Antwort, aber Marie verschränkte nur die Arme und sah ihn schief an.
»Na gut. Dann Entschuldigung für gestern und nochmals danke für heute. Ich meine es ernst. Aufrichtigen Dank.«
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