Lis Vibeke Kristensen
Ein Haus am Ende der Welt - Im Finden verirren
Aus dem Dänischen von
Holger Wolandt und Lotta Rüegger
Saga
Ein Haus am Ende der Welt - Im Finden verirren Übersetzt Holger Wolandt; Lotta Ruegger Original At finde vild Coverbild / Illustration: Shutterstock Copyright © 2005, 2019 Lis Vibeke Kristensen und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788711448908
1. Ebook-Auflage, 2019
Format: EPUB 2.0
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Draw a map to get lost.
Yoko Ono
Teile dieses Buchs wurden durch wirkliche Ereignisse und wirkliche Personen angeregt. Die Autorin hat sich dem Material gegenüber Freiheiten erlaubt. Dieses Buch soll als fiktives Werk gelesen werden und nimmt nicht für sich in Anspruch, historisch korrekt zu sein.
Ich bin im achten Monat, und der Arzt des Stützpunkts tätschelt mir das Knie unter dem Laken, das entweder mein oder sein Schamgefühl schonen soll, während ich mit den Beinen in den Schienen des Stuhls liege und mich darauf konzentriere, keinen fahren zu lassen.
Solche Probleme seien bei Schwangeren vollkommen normal, sagt er und lächelt sein zuvorkommendes Ärztelächeln.
Die Blähungen sind aber gar nicht mein Problem. Mein Problem ist, daß ich gar nicht schwanger sein will. Ich will nicht in einem Kleidungsstück herumwatscheln, das einem Viermannzelt ähnelt. Ich will in voller Feldausrüstung auf verschneiten Bergpfaden marschieren. Ich will mich hinter einen Busch hocken können, meinen Durst mit lauwarmem Wasser aus einer Feldflasche löschen und die Nächte unter einem Moskitonetz verbringen.
Moskitonetze könnte man in diesem Land an und für sich auch gut gebrauchen, aber Mücken sind meine geringste Sorge an diesem Vormittag, an dem ich an einer Kreuzung in Reykjavík stehe und so diskret wie nur möglich einen fahren lasse.
Meine Gase riechen genauso schlimm wie die Schwefeldämpfe, die in diesem Land überall dort aus der Erde aufsteigen, wo man am wenigsten damit rechnet. Ich hoffe, die Umstehenden halten das für eine Naturerscheinung, während ich darauf warte, daß der Verkehr nachläßt.
Der Gestank aus meinem Inneren ist nur eines der Symptome meines Verfalls. Mein Gehirn ist ein Moorloch, aus dem nur Sumpfgas entweicht. Ich werde ausfällig gegen alle und jeden und besonders gegen den armen Bill, der nur das getan hat, was von einem Mann in seiner Situation zu erwarten war, nämlich mich zu heiraten, als es für die morgendliche Übelkeit und die ausgebliebene Regel keine Ausrede mehr gab.
Ich bin fünfundzwanzig und sitze in einer furchtbaren Falle. Wäre nicht alles so katastrophal, dann könnte ich an dieser Alliteration sogar Gefallen finden.
Bill, durchtrainiert und fürchterlich uninspirierend, hat von mir geträumt, seit wir in der High-School ein Liebespaar waren. Es ist nicht auszuschließen, daß er seit dem Moment, in dem ich sein Organ losließ, kurz bevor er auf der Rückbank des Pontiacs meines Vaters gekommen wäre, mit einer Erektion herumgelaufen ist.
Partner sind, wie meine Basisgruppe schon lange festgestellt hat, ein notwendiges mentalhygienisches Übel und nur dazu geeignet, die Spannungen abzubauen, die einen daran hindern, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. In meinem Fall mein Fachgebiet, das ich mit unglaublicher Leidenschaft liebe. Sprache ist die Luft, die ich zum Atmen brauche, und die linguistische Anthropologie verleiht meiner Existenz ihren Sinn.
Als Bill also auf der Hochzeit meiner Schwester auftauchte, bei der ich eine etwas überreife Brautjungfer darstellte, sah ich das als reine Entspannung.
Marge rauschte in Taft und Tüll und auf Vaters Arm gestützt durch den Mittelgang, und ich stand in malvenfarbenem Musselin mit einem passenden Strauß Margeriten da, und meine Gedanken kreisten um meine Doktorarbeit, die zu diesem Zeitpunkt nur noch eine Frage von Zeit und Fleiß war. Und dann stand er vor mir.
Mr. Middle America in frisch gebügelter Galauniform, mit glattrasiertem Nacken und glatter Haut, nach frischgeputzten Schuhen, Menthol und frischgereinigter Gabardine duftend.
Ein alter Beau. Wo fühlt man sich geborgener als in einer Umarmung, die man kennt und die man bequem auf der Suche nach neuen Abenteuern wieder verlassen kann?
Oder eben nicht.
Die Falle ist zugeschnappt. Es ist was unterwegs, und eine illegale Abtreibung ist keine Alternative. Obwohl ich das Geld vielleicht sogar aufbringen könnte, hat die Sonntagsschule trotz allem ihre Spuren hinterlassen. Und Höllenqualen erscheinen mir weniger reizvoll als der schöne, langweilige Bill. Es gibt jedoch keinen Grund, die Familie mit einer weiteren Hochzeit zu behelligen.
Ein Friedensrichter verwandelt in zweieinhalb Minuten Joyce Deirdre Dunne M.A. in Mrs. William D. Turnbull.
In meinem keuschen Jugendzimmer übergebe ich mich so geräuschlos wie möglich in eine Plastiktüte, wenn ich nicht gerade das Notwendigste zusammenpacke, vor allen Dingen meine Reiseschreibmaschine, und einen Artikel über die isländische Sprachpolitik plane, der mein geistiges Überleben sichern soll, bis das Kind auf der Welt ist.
Ich weiß noch nicht, daß jeder Ehrgeiz, der das morgendliche Sich-aus-dem-Bett-Quälen übersteigt, unausweichlich blasenziehend in dem mentalen Morast versinkt, den das Mutterwerden mit sich bringt.
Wenn schon etwas so Normales wie eine Schwangerschaft meine intellektuellen Fähigkeiten in diesem Ausmaß lähmt, wie sieht es dann erst aus, wenn daraus unausweichlich ein Kind mit seinem unbestreitbaren Anrecht auf Stillen, Baden, Wickeln, Wiegen und Trost resultiert?
Das Ergebnis meiner rudimentären Überlegungen über die Zukunft läßt sich in drei Worten zusammenfassen: Angst, Schrecken, Panik.
Der Verkehr rauscht an mir vorbei, so wie der Verkehr in dieser Einöde eben rauscht. Meist sind es klapprige Karren, die die Soldaten des Stützpunktes, die in die Heimat zurückgekehrt sind, mit Profit verkauft haben. Heckflossen und lila Lack dominieren. Auf den Schotterstraßen fahren alle schnell, wie richtige Wikinger eben.
Ein Bus keucht die leichte Steigung hinauf. Im Schutz des Lärms lasse ich noch einen fahren und verlagere dann mein nicht unbeträchtliches Gewicht auf das andere Bein.
Ich stehe an einer Kreuzung in einem Ort, bei dem es sich wahrscheinlich um Reykjavík handelt. Direkt nach meiner Ankunft, ehe meine Figur ihre gegenwärtigen nilpferdhaften Ausmaße annahm und mein Gehirnschwund einsetzte, wußte ich noch, was der Name der Stadt bedeutet. Ich legte mir ein Wörterbuch zu, machte mich mit den Deklinationen der Substantive vertraut und telefonierte mit dem nationalen Sprachinstitut.
Jetzt bin ich mir nicht mehr sicher, ob Straßen über Namen verfügen oder Substantive Deklinationsendungen besitzen. Mein Horizont endet beim gegenüberliegenden Bürgersteig, wo ein roter Ballon im Wind treibt.
Ein roter Ballon. Keiner dieser eleganten, heliumgefüllten, die befreit in den Himmel fliegen, sondern einer, den irgendeine ermattete Mutter mit der letzten Kraft ihrer erschöpften Lungen aufgeblasen hat. Vielleicht kommt er direkt von meinem eigenen Stützpunkt. Ein echter amerikanischer Ballon, den ein Windstoß jetzt über die Straße treibt.
Ein kleiner Junge wirft sich bereits über die Bordsteinkante. Seine entsetzten Augen sind auf den Ballon gerichtet. Seinen Ballon, vermute ich. Den am heißesten begehrten Ballon in der Geschichte Reykjavíks, nach dem Geheul des Knäbleins zu urteilen, als ihn seine Mutter am Ärmel packt und davor bewahrt, sich vor den Bus zu werfen.
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