Lis Vibeke Kristensen
Nanna
Eine kluge Jungfrau
Roman
Aus dem Dänischen von
Christel Hildebrandt
Saga
Wo seid ihr klugen Jungfrauen?
Wohl auf, der Bräutigam kommt,
Steht auf, die Lampen nehmt!
Philipp Nicolai
Die Vorhalle des Museums ist dunkel. Nanna kneift ihre Augen vor der Informationstafel zusammen, einen Katalog kann sie sich nicht leisten. Die ersten Monate in der Stadt haben sie gelehrt, daß Sonderausgaben auf ein Minimum reduziert werden müssen. Ein Windbeutel mit einem witzigen Namen in der Konditorei am Sonntag, wenn sie sich mit einer Freundin aus dem Sprachkurs trifft, ein Café crème in einem Bistro – das ist gerade noch drin. Wenn sie spart, kann sie sich vielleicht die blauen Schuhe kaufen, die sie in einem Schaufenster gesehen hat. Es ist für sie eine Ehrensache, mit dem wenigen Taschengeld zurechtzukommen, das ihr der Au-pair-Job einbringt.
Heute will sie sich nur auf einzelne Kunstwerke konzentrieren. Auf Dinge, die zu ihrem Gymnasiumwissen gehören und die sie gern im Original sehen möchte. Ein paar Postkarten will sie auch kaufen. Ihre beste Freundin Mette teilt mit ihr das Interesse für Kunst und soll ihren wöchentlichen Gruß bekommen, ein Ritual, das Nannas Gefühl der Verlassenheit in der fremden Stadt etwas dämpft. Daß Mettes Teil der Korrespondenz eher sporadisch ist, damit hat sie sich abgefunden.
Bei dem Gedanken an Mette muß sie vor sich hin lächeln. Mette, deren ungezügelter Kopf unter dem schwarzen Haar immer neue Anschläge auf Recht und Gesetz ausheckt, mit der alle Stile brechenden Sicherheit der finanziellen Oberklasse über alle Konventionen erhaben, eine permanente Herausforderung für Nannas eigene Tugendhaftigkeit. Sie und Nanna waren seit der ersten Klasse unzertrennlich, mit der Anziehungskraft der Gegensätze aneinander gebunden.
Mette verbringt das Jahr nach dem Abitur, indem sie sowenig wie möglich in der Konfektionsfirma ihres Vaters macht. Nannas Entschluß, für ein Jahr nach Paris zu gehen, hat eher einer Flucht geähnelt, weg von der Herzkrankheit ihres Vaters und den Jammertiraden ihrer Stiefmutter, einer Pause vor dem Jurastudium. Weg von dem vorgezeichneten Pfad, den Plänen ihres Vaters für sie.
Nanna hat ihre teuer erkaufte Freiheit in feste, nützliche Bahnen gelenkt. Sie absolviert ihren Französischkurs mit der Energie eines Bibers, legt an ihren freien Nachmittagen lange Wege zu den Sehenswürdigkeiten zurück. Auf dem Heimweg spendiert sie sich selbst ein Metrobillett, damit sie ausgeruht zurückkommt, sich ihre karierte Schürze umbinden kann und das Kind baden, Gemüse putzen und den Tisch decken, während Madame und Monsieur in dem eleganten Wohnzimmer sitzen und ihren Apéritif in kleinen, wohlerzogenen Schlückchen genießen.
Nanna verläßt die Informationstafel. Sie schaut sich nach jemandem um, den sie um Rat fragen kann, übt stumm eine Höflichkeitsfloskel. Da sieht sie die Statue. Die hohe Frauenfigur steht auf dem Treppenabsatz am anderen Ende der Halle, sie sammelt das gesamte Licht des Raumes in sich, das Licht strömt von ihrem Körper, von den Flügeln, erhebt sich von ihrem Rücken. Sie ist auf dem Weg nach oben, hinaus, hat sich an den Rand des Abgrunds gestellt, jetzt geht es ums Ganze, die hohe Brust ist siegessicher, die Flügel erheben sich brausend nach hinten.
Sie gehört in Nannas Schulbuchwelt, steht auf der Liste der Marmorfiguren, die Nanna sehen, vielleicht auch berühren will, wenn die Wärter sich lange genug abwenden.
Jetzt steht sie da, unerwartet, und Nanna muß aufschauen, geblendet. Es zuckt in ihrer Brust, und kurz darauf kann sie durch die Tränen, die ihre Augen füllen und ihr die Wangen hinunterlaufen, nichts mehr sehen. Sie wischt sie mit einem Finger weg, und plötzlich sieht sie ein Gesicht über dem gebrochenen Hals, dort, wo der Kopf des Sieges eigentlich sitzen sollte. Nannas eigenes Gesicht, strahlend in unbändigem Triumph.
Nanna beißt die Zähne zusammen. Die Einsamkeit macht sie hautlos, schon der Anblick eines Bettlers auf der Straße kann sie für einen ganzen Tag aus dem Gleichgewicht bringen, aber sie hat sich von Anfang an vorgenommen, in dieser Stadt nicht zu weinen. Sich zusammenzureißen, statt beim ersten freundlichen Wort den Gefühlen ihren Lauf zu lassen, wie sie es sonst tut. Wenn sie das übt, wird es schon gehen. Aber gerade jetzt kämpft sie vergeblich damit, die rinnenden Tränen aufzuhalten.
Sie weiß nicht, wie lange sie da schon steht, in ihrer Bewegung erstarrt, mit nassen Wangen, als ein stämmiger Mann in der Uniform des Museums sie am Arm berührt.
»Ist etwas nicht in Ordnung, Mademoiselle?« Seine kleinen Knopfaugen gucken freundlich hinter einer Nickelbrille, sein Schnurrbart ist braun und struppig. »Wollen Sie sich einen Moment hinsetzen?«
»Nein, nein.« Nanna versucht den Mann anzulächeln, der mit seinem Daumen auf eine Bank zeigt. »Ich will jetzt lieber gehen.« Bis jetzt hat sie jeden direkten Kontakt mit Männern vermieden, sogar an öffentlichen Orten. So verwundbar, wie sie sich im Augenblick fühlt, möchte sie sich lieber nicht einer Freundlichkeit aussetzen, die noch mehr Tränen hervorrufen könnte.
Der Museumswärter zuckt mit den Schultern. »Wie Sie möchten«, sagt er und geht mit knirschenden Sohlen davon.
Nanna eilt zur Wand, holt den kleinen Spiegel aus ihrer Schultertasche. Ihre Nase glänzt rot unter den blassen Resten ihrer Sommersprossen, in den langen Wimpern um die Augen hängen noch Tropfen, die Augen selbst glänzen grün durch einen Feuchtigkeitsschleier. Sie holt ihr Taschentuch aus dem Reißverschlußfach der Handtasche heraus, tupft sich damit vorsichtig ab, um das Ganze nicht noch zu verschlimmern. Dann stopft sie den Spiegel wieder in die Tasche und geht zu den großen Schwingtüren.
Der Hauptverkehr hat bereits eingesetzt, als sie auf die Straße tritt. Sie eilt in dem verlöschenden Nachmittagslicht zum Metroeingang, wird mit der ganzen Schar eiliger Menschen, die auf dem Weg von der Arbeit oder ihren Einkäufen nach Hause sind, auf dem Weg zu den Bars der Vororte, zum Abendessen im Familienkreis, in den Treppenschacht hinuntergezogen.
Sie klammert sich mit beiden Händen an ihre kleine Schultertasche, die späten Nachmittagsstunden sind das Paradies der Taschendiebe. Das Sausen der grünen Wagenreihen schlägt ihr aus den gekachelten Bogengängen entgegen. Hier und da öffnet sich ein weiterer Gang, die Menschenmassen verteilen sich, rutschen, stolpern und drängen auf die Bahnsteige, schieben sich durch die automatischen Türen hinein in die Waggons, überall sind Ellbogen, Regenschirme, knisternde Regenmäntel, der Oktober dieses Jahr ist naß.
Nanna kneift die Nasenflügel zusammen, um sich gegen die Ausdünstungen der sich schiebenden Masse um sie herum zu schützen. Verdauter Knoblauch und ungewaschene Achseln, Pisse und Schweißfüße vermischen sich mit dem speziellen Aroma der Metro aus Ruß und verbrannter Schokolade. Sie kämpft darum, die Geräusche nicht an sich herankommen zu lassen, will mit dem Bild der Marmorfrau auf dem Treppenabsatz allein bleiben.
Ein quietschendes, stampfendes, Übelkeit erzeugendes Geräusch der Bahnbremsen unterbricht ihre Gedanken. Der Menschenstrom erstarrt plötzlich hinter ihr, und sie wird gegen ihren Willen nach vorn geschoben, auf den grünen Zug zu, der unter dem Bremsvorgang wie in Krämpfen zuckt. Direkt an der Bahnsteigkante bleibt sie mit schwindelndem Kopf stehen.
Unten auf den Gleisen liegt der Körper einer jungen Frau, ein Torso mit einem aufgedunsenen Bauch, Reste eines Mantels hängen an dem einen Arm, ein gebrochener Flügel, schwarze Wollfetzen bedecken die zerrissenen Brüste. Aus dem Hals der Frau wird das Blut in langen Zügen herausgepumpt, es spritzt auf die Gleise, tropft auf den schwarzbraunen Steinuntergrund, sammelt sich unter dem kopflosen Körper zu einer Pfütze.
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