Zu guter Letzt muß sie eingedöst sein, denn sie befindet sich mitten in einem diffusen Traum, als ein dumpfes Geräusch sie veranlaßt, sich aufzurichten und Licht zu machen.
Etwas ist dort oben zu Boden gestürzt. Ein Möbelstück? Ein Mensch?
Jetzt ist es ganz still. Wladimira hört ihr eigenes Herz pochen. In ihrem Magen spürt sie ein Brennen. Die unregelmäßigen Mahlzeiten, die ihre Arbeit mit sich bringt, fordern ihren Tribut. Normalerweise schläft sie trotz Sodbrennen ein. Jetzt liegt sie wach und lauscht, obwohl sie es eigentlich nicht will.
Ein neues Geräusch. Jemand klopft laut gegen die Decke ihres Zimmers. Klopf. Klopf. Jetzt ist wieder ein Stöhnen zu hören. Lauter als vorher.
Oooh. Oooh.
Unter solchen Umständen kann man nicht schlafen.
Wladimira zieht ihre Bluse an und ihren Faltenrock. Dann schlüpft sie mit nackten Füßen in die Schuhe, die zwar schon den ganzen Tag drücken, aber ihre schönsten sind.
Sie geht die Treppe hoch und überlegt, ob es statthaft ist, jemanden zu bitten, etwas leiser zu leiden.
Als sie vor der Tür steht und die Hand zum Klopfen hebt, kommt ihr in den Sinn, daß sich der Mann dort drinnen verletzt haben könnte.
Der Mann, den sie nicht mag, hat sein Zimmer etwas weiter den Gang hinunter. Das korrekte Verhalten in dieser Situation wäre zweifellos, bei ihm anzuklopfen und ihn zu bitten, sich des Problems anzunehmen, aber sie weiß nicht einmal, wie sie es formulieren soll, worin es überhaupt besteht.
Statt dessen legt sie ein Ohr an die Tür. Von innen ist nichts zu hören.
Wladimira bleibt einen Augenblick stehen und horcht in die überraschende Stille. Bestenfalls ist er dort drinnen eingeschlafen. Und schlimmstenfalls? Die Stille verheißt nichts Gutes.
Ganz von selbst hebt sich ihre rechte Hand. Mit dem Mittelfinger schlägt sie zweimal auf die braune Türfüllung, ein zweifaches, diskretes Klopfen.
Ein Geräusch. Jemand bewegt sich auf der anderen Seite der Tür. Es klingt, als würde jemand kriechen, wie Knie auf einem Teppich. Dann wird es wieder still.
Die Tür ist nicht abgeschlossen und läßt sich halb aufdrücken. Etwas ist im Weg, so daß sie sich nicht ganz öffnen läßt. Ein liegender Mann.
Nun richtet er sich mit Mühe auf. Das bekannte Gesicht taucht im Türspalt auf, das kräftige, rotbraune Haar, die grünen, traurigen Augen.
Dann steht sie plötzlich mitten im Zimmer. Zwei Hände haben sie an den Oberarmen gepackt, und sie wird durchgeschüttelt, wie der Junge vorhin, aber sie hat nichts getan, nichts gewagt. Schließlich war nicht sie es, die sich einem roten Ballon hinterher- und um ein Haar vor einen Bus geworfen hätte.
Den ganzen Tag ist sie ihrer Arbeit nachgegangen, hat Worte in andere Worte übersetzt, und jetzt ist sie müde und will schlafen. Sie ist gekommen, um das zu sagen.
Sie bringt kein Wort über die Lippen.
»Setzen Sie sich«, sagt der Mann.
Die Stühle des Zimmers, Empire mit Intarsien, sind mit Kleidern und zerknülltem Papier bedeckt. Ein Tennisschläger lehnt an dem riesigen Sofa. Auf einem zierlichen Schreibtischstuhl steht ein Schachbrett mit den Figuren in der Ausgangsposition.
Der Gestank von Zigarettenkippen ist überwältigend.
Durch die Tür zum Schlafzimmer sieht sie, daß das breite Doppelbett gemacht ist, die Bettdecke ist festgesteckt.
»Kommen Sie.«
Ein Finger deutet anklagend auf ihre Nase. Dann wird er zur Decke gehoben. Sie folgt ihm mit dem Blick.
Nun deutet der Finger zu Boden. Wladimira starrt auf das Muster des Teppichs. Dunkelblaue Blumen auf rotem Grund. Der Teppich sieht persisch aus.
Das ist ein Perserteppich, sagt eine Stimme in ihrem Kopf. Die Stimme spricht isländisch.
Eine Hand packt ihr Kinn. Sie muß ihn ansehen, wenn sie nicht die Augen schließen will. Die Hand drückt ihren Kopf hin und her, immer fester und immer schneller.
Noch nie hat sie jemand so behandelt. Ihre Mutter hat nie die Hand gegen sie erhoben. Kein Lehrer hatte je einen Grund, sie zu bestrafen.
Endlich läßt er los.
»Was denken Sie?«
Er wirkt ungeduldig, aber seine Stimme klingt beunruhigend normal. Ist er verrückt? Bei Genies ist das möglich. Und er ist zweifellos ein Genie.
»Was ich denke?«
»Was denken Sie, wenn ich Sie so schüttele? Was denken Sie?«
»Das weiß ich nicht.«
Denkt sie überhaupt?
»Setzen Sie sich.« Er nickt in Richtung eines Stuhls und fegt mit der Hand einen Stoß Papiere zu Boden. Wladimiras Beine geben nach, und sie setzt sich. Sie wagt es nicht anders.
»Stehen Sie auf.«
Sie zögert. Wenn das so weitergeht, muß sie um Hilfe rufen. Sie hofft, daß ihre Stimme, wenn nötig, bis zur Außenwelt durchdringt.
»Stehen Sie auf, habe ich gesagt.«
Chaotische Signale erreichen ihre verschiedenen Körperteile. Hinter ihren Augen hat sich etwas Warmes angesammelt.
»Stehen Sie endlich auf.«
Ihr Körper gehorcht mehr schlecht als recht. Sie kommt auf die Beine.
»Gehen Sie rüber zur Wand. Kommen Sie zurück. Gehen Sie rüber zur Wand. Kommen Sie zurück. Schneller. Machen Sie schon. Rüber zur Wand. Zurück. Rüber zur Wand. Zurück.«
Sie tut es. Hin und her, bis sie nach Luft ringt.
»Was denken Sie? Was denken Sie? Was denken Sie?«
Seine Hand hält sie auf. Seine Finger bohren sich in ihre Schulter. Sein Mund ist ganz nah an ihrem Ohr. Jetzt schreit er.
»Was denken Sie?«
»Nichts.«
»Nichts?«
»Nichts, habe ich gesagt. Nichts.«
Sie hört selbst, daß sie schreit. Das ist überraschend.
Noch mehr überrascht sie, daß sie isländisch spricht.
Das verwirrt ihn so sehr, daß er eine Sekunde lang losläßt, aber einen Augenblick später hat er ihre Schulter schon wieder im Schraubstock.
»Natürlich denken Sie nichts. Wer kann schon mit einer Pistole an der Schläfe denken? Sie können es nicht. Ich kann es nicht.
Man kann weinen, man kann sich in die Hose machen, aber man kann nicht denken.«
Der Junge mit dem Ballon konnte das Wasser nicht halten. Das Bild der kleinen Lache auf dem Bürgersteig ist plötzlich wieder da. Sie wußte nicht einmal, daß es ihr aufgefallen war. Ihre eigene Blase drückt unter dem Faltenrock.
Seine Augen sind immer noch traurig. In ihnen ist keine Wut. Vielleicht kann sie ihn überreden, sie gehen zu lassen.
»Können wir uns nicht hinsetzen?«
Das wirkt. Er deutet durch die Tür auf das Fußende des Bettes.
»Dort.«
So langsam, wie sie es nur wagt, begibt sie sich mit ihm auf den Fersen ins Schlafzimmer und läßt sich ganz außen auf die Bettkante sinken.
Er selbst setzt sich auf den Fußboden.
Dann sitzen sie da. Die Minuten vergehen. In Wladimiras Kopf drehen sich die Worte im Kreis. Isländische und russische durcheinander. Wenn sie etwas sagen soll, so muß sie die Worte wählen, die ihn dazu bringen, sie gehen zu lassen.
Er bricht das Schweigen.
»Das ist meine Aufgabe. Mein Gehirn zu gebrauchen.« Er spricht diese Worte aus der Hocke. »Mir den Zug vorzustellen, bevor ich die Figur bewege. Ich lasse mir Zeit. Oder ich bin schnell. Manchmal ist es das beste, schnell zu sein. Überraschungsangriff. Man muß die richtige Entscheidung treffen. Jeder einzelne Zug muß korrekt sein. Und elegant. Daran denke ich. Jedesmal. Korrekt und elegant. Vorgestern sagten sie, wir würden nach Hause fahren. Sie wollten mich ohne Kampf zum Sieger ernennen. Aber ich gehöre nicht zu den Leuten, die dem Gegner den Rücken zukehren. Egal, wie er sich benimmt. Er ist der Gegner. Ich habe mich bereit erklärt zu spielen, und ich spiele.«
Die Worte richten sich nicht an sie, sondern an die Wand hinter ihr.
In Wladimiras Kopf verwandeln sie sich in isländische Worte, korrekte Worte, eins nach dem anderen. Auf diese Weise ergeben sie keinen Sinn, und sie muß zu ihnen nicht Stellung nehmen.
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