»Bonjour, Florian Reinart!«, rief der Ankömmling aus, zog die
Sonnenbrille ab und zeigte ein unwiderstehliches Grinsen.
»Olivier Rivoal!«, erkannte Florian jetzt den freundlichen Gendarm, »heute nicht in Uniform?
»Nein, ich habe Urlaub. Da dachte ich, ich sehe nach, ob die Porsche den Weg nach Mengleuff gefunden hat.«
Sie schüttelten sich die Hände, wobei Olivier erschrocken auf Florians verbundene Linke sah. »Was haben Sie, eine Verletzung?«, erkundigte er sich sofort.
»Ich bin vom Dach gefallen, aber gut verarztet worden, es ist nicht so schlimm«, winkte Florian tapfer ab. »Ich wollte eben nach Telgruc, etwas essen. Wollen Sie mitkommen?«
»Gut, aber wir nehmen die Porsche, nicht wahr?«
» Den Porsche? Na gut.«
» Der Porsche, d’accord – die Artikel in Ihrer Sprache sind sehr, sehr schwer zu lernen! Aber die deutschen Autos sind wirklich die besten«, begeisterte Olivier sich dann beim Anschnallen.
Florian startete den Wagen. »So? Boris, der Besitzer des Hauses, würde Ihnen zustimmen. Das hier ist nämlich sein Auto. Er hat es mir geliehen.«
»Warum?«, fragte der Gendarm, beinahe ungläubig.
Florian musste lächeln. »Weil mein Auto in der Werkstatt ist. Boris wird es morgen abholen. Wir haben getauscht, sozusagen.«
»Dann ist er ein sehr guter Freund von Ihnen, Boris?«
Du fragst gar nicht, was ich für ein Auto habe, dachte sich Florian, verkniff sich aber eine Bemerkung. Stattdessen antwortete er: »Boris ist jedenfalls ein sehr guter Kollege. Und ihm gehört, wie gesagt, das Haus, das Sie gesehen haben.«
»Tiens?« Olivier zog ungläubig die Augenbrauen hoch.
»Warum erstaunt Sie das jetzt?«
»Ich dachte, die Deutschen sind ordentlich.«
»An dieses Vorurteil würde ich nicht unbedingt glauben«, gab
Florian schmunzelnd zurück.
Sie fanden einen Terrassenplatz in einer Brasserie am Kirchplatz. Das war günstig; hier ganz in der Nähe musste das einstige Quartier seiner Oma sein. Sie hatte von ihrer Kammer aus direkt auf den
Kirchturm gesehen, hatte sie geschrieben.
Sie bestellten beide das Tagesgericht, ein Meeres-Cassoulet mit verschiedenen Fischsorten. »Und was haben Sie vor, in Ihren vacances?«, fragte Olivier und schenkte Florian Weißwein ein.
»Wollen wir uns nicht einfach duzen?«, fragte Florian zurück und probierte den Wein. »Hm, nicht zu herb, nicht zu fruchtig; sehr gut.«
Olivier legte den Kopf schief. »Très bien, mein Freund«, sagte er langsam. »Aber du musst aufpassen. Wenn du einen Franzosen zu schnell anredest mit du, findet er das aufdringlich. Wenn du einen Bretonen zu schnell anredest mit du, findet er das aufdringlich und er wird misstrauisch. Die Bretonen waren Jahrhunderte auf ihrer Halbinsel unter sich. Sie misstrauen den Fremden.«
»Also, bretonische Frauen sind zickig und Bretonen insgesamt sind misstrauisch gegenüber Fremden. Gibt es sonst noch etwas, was ich wissen sollte?«, fragte Florian amüsiert.
»Ah, du hast dir behalten, dass Bretoninnen Zicken sind. Das ist gut. Bretonen sind außerdem stur und rebellisch«, versicherte Olivier.
»Misstrauisch, stur und rebellisch; wenn weiblich, dann außerdem zickig. Warum bist du noch nicht ausgewandert?«, schmunzelte Florian und lehnte sich zurück.
»Ich weiß nicht«, Olivier schien nachzudenken. »Ich liebe das
Meer«, sagte er dann. »Und ich bin einer von ihnen.« Er grinste.
»Also, was hast du vor, in deinen vacances?«
Florian mochte diesen Mann, den er kaum kannte. Plötzlich verspürte er ein starkes Bedürfnis danach, ihm alles über Katharina anzuvertrauen. Aber dass er Olivier mit dem Duzen überfallen hatte, war wohl vorerst genug.
Sie unterhielten sich über belanglose Dinge, genossen ihr Cassoulet und ihren Wein. Es war erst gegen Ende des Essens, dass Florian schweigsam und nachdenklich wurde, bis der Gendarm, dem nichts entging, ihn fragte, was los war. Und so erklärte Florian ihm, dass seine Großmutter im Krieg auf Crozon stationiert war und dass sie hier, in Telgruc, gewohnt hatte.
»Wie interessant«, rief Olivier aus. »Du weißt, wo?«
»In etwa. Es muss hinter dieser Brasserie liegen, gegenüber vom Kirchturm.«
»Ah ça …« Der Gendarm sah auf die Tischplatte, auf die seine Finger trommelten.
»Wollen wir nachher nach dem Haus suchen?«, fragte Florian.
»Aber zuerst, ein Kaffee!«
Der Kirchplatz war umfasst von einer niedrigen Mauer mit einem höheren Rundbogentor, durch das sie traten. Florian musterte die Kirche vor sich. Sie war relativ groß und langgestreckt, mit schlankem Turm. Sie bestand ganz aus Granit; aber etwas damit stimmte nicht. Florian fing einen Seitenblick Oliviers auf. »Was denkst du, als Architekt?«, fragte der Gendarm, dem Florian beim Essen gesagt hatte, was sein Beruf war.
»Etwas stört mich. Diese Kirche ist nicht genügend verwittert. Entweder, man hat sie zu gründlich gereinigt, alle Patina entfernt; oder …«
»Oder?«, fragte Olivier, während sie das Eingangsportal fast erreicht hatten.
Da fiel Florians Blick auf eine Informationstafel. Er studierte die Reproduktion des alten Fotos und er nickte. »Diese Kirche ist nach dem Krieg neu aufgebaut worden«, sagte er. »Sie war ja fast komplett zerstört … und alles um sie herum auch. Aber das würde ja heißen …«, Florian wandte sich nach links.
Der Gendarm folgte seinem Blick und zuckte die Achseln. »Ich wollte es nicht sagen. Ich befürchtete schon, dass das Haus, das du suchst, nicht mehr existiert.«
Florian nickte enttäuscht. Da, wo er das Haus vermutet hätte, auf der Rückseite der Brasserie und einer angrenzenden Bäckerei, erstreckte sich ein Parkplatz. »Schade«, sagte er. »Sehr schade.«
»Es gibt andere Orte mit vielen Spuren des Krieges, weißt du«, hob Olivier an. »Wenn du Hilfe brauchst, für deine Recherchen, rufe mich an. Ich gebe dir die Nummer von meinem Handy.«
»Recherchen? Ich hatte nicht vor … Andererseits, warum nicht …« Florian verstummte. Aber ja, natürlich. Katharina drohte ihm mit der Scheidung; seit gestern Abend trug er diese Last mit sich herum, die ihn lähmte. Aber er würde nicht zu ihr zurückfahren, um seinen Teil dazu zu tun, die Scheidung noch zu beschleunigen. Vielleicht wollte Katharina keine Auszeit; aber er wollte genau das, für sich selbst und für sie! Er würde hierbleiben, für eine Weile, sich und Katharina Zeit geben, alles gründlich zu durchdenken. Überstürzt handeln war niemals gut. Nein; er würde in der Bretagne bleiben, und die Suche nach den Orten, an denen seine Oma gewesen war, würde ihm eine Aufgabe geben. Denn verdammt, er konnte nicht immer und ununterbrochen gedanklich um seinen Liebesschmerz kreisen! »Was für Spuren des Krieges hast du konkret gemeint?«, fragte er Olivier.
»An den Küsten findest du überall Kriegsanlagen der Deutschen. Ich kenne sogar welche, die heute geheim sind. Versteckt, unter der Erde«, das letzte hatte Olivier mehr geflüstert.
Ein Anflug von Misstrauen überkam Florian. »Olivier, warum sprichst du eigentlich so gut Deutsch?«, fragte er wie beiläufig.
»Oh, meine Schwester lebt in Essen, seit vielen Jahren. Ich habe sie oft besucht.«
»Ach so. Und was dein Kollege gesagt hat, stimmt das wirklich? Begeisterst du dich für alles, was deutsch ist?«
»Für alles? Nein. Aber für deutsche Autos!« Olivier lachte. »Und ich interessiere mich auch für deutsche Bunker etcetera, denn Geschichte fasziniert mich. Wenn ich studiert hätte, ich hätte Geschichte studiert. Aber mein Abitur war nicht gut genug, wegen Mathe …« Olivier schnitt eine Grimasse.
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