Er fand die alte Dame vor ihrem Haus auf der Bank sitzend. Sie strickte.
»Bonjour«, grüßte Florian vom Gartentor aus.
Yvonne sah auf. »Tiens, c’est vous. Alors, elle va comment, votre main? Ar hleñved kuit; Gand al louzaouer ez a ar gounid 3.«
Florian begriff, dass die alte Dame nach seiner verbundenen Hand fragte, und sagte: »Alles gut – très bien! À propos: Merci, pour vous«, und er hielt ihr die Rochers hin.
Verblüfft, aber erfreut nahm die alte Dame die Süßigkeiten entgegen. »Vous voulez un apéritif?«, fragte sie dann.
Warum nicht? Florian nickte.
»Alors venez«, lud Yvonne ihn ein, ihr in ihr Haus zu folgen.
Ein enger Korridor, links und rechts jeweils zwei Türen; geradeaus die Treppe zum ersten Stock; unter dem Treppenabsatz eine weitere Tür, bestimmt zur Toilette. An den Wänden des Flurs eine großgeblümte Tapete, grün-weiß. Florian folgte Yvonne durch die erste Tür rechts und stand in der Küche.
»Asseyez-vous«, forderte die alte Dame ihn auf, und er setzte sich auf einen der vier Stühle an den rechteckigen Tisch. Während sie aus einem mit gedrechselten Säulen, Schnitzereien und Nägeln verzierten Küchenbüffet zwei geschliffene Gläser holte, ließ er den Blick weiter durch den kleinen Raum schweifen. Und staunte. Der hohe Kühlschrank mit dem verchromten Griff sah nach fünfziger Jahren aus. Das emaillierte Spülbecken daneben wirkte eher älter als jünger, auch wenn der Wasserhahn darüber neu war. Ein einfacher Gasherd und eine schöne alte Standuhr aus rötlichem Holz vervollkommneten die Einrichtung.
Nun stellte Yvonne eine Flasche auf den Tisch, dessen Platte durch eine gewachste Decke geschützt war. Man sah genau, wo Yvonne zu sitzen und zu essen pflegte, denn da war die einst blaue Decke mit ihren gelben Blumen ausgebleicht vom regelmäßigen Sauberwischen.
»C’est du Lambig breton«, erklärte Yvonne stolz, schenkte ein und schob ihm ein Glas zu. Sie setzte sich, hob ihres und rief aus: »Yehermat!«
»Yehermat«, wiederholte Florian, nahm einen Schluck und hustete.
»An tamm hag al lomm, A ra dezañ kaoud lamm. 4C’est fort, mais c’est bon«, sagte Yvonne, zufrieden schmatzend. Sie hatte ihr Glas auf einen Zug geleert.
»Jaja, sehr gut«, sagte Florian mit rauer Stimme. Er hatte nur nicht mit etwas so Scharfem zum Aperitif gerechnet. Er nahm die Flasche und las: »Lambig. Eau de vie de Cidre. 40%.«
»Encore un?«, fragte Yvonne, sobald auch Florian sein erstes Glas Cidre-Schnaps geleert hatte.
Auf dem kurzen Rückweg zu Boris’ Haus schwirrte Florian der Kopf und Mengleuff schien ein wenig zu wanken. Der Lambig war gut gewesen und das neue Wörterbuch war gut gewesen, denn jetzt wusste Florian, dass Yvonne Witwe war. Sie hatte zwei Kinder, Colette und Gilbert. Colette lebte in Paris und Gilbert in Quimper. Gilbert – Quimper. Das reimte sich, Florian kicherte. Enkel und Urenkel hatte Yvonne auch. Ganze sieben, Florian hatte Fotos gesehen.
Er fummelte den Schlüssel in das Schloss. Endlich bekam er die Haustür auf. Drinnen ließ er sich auf die Couch fallen. Wie viele Gläser von dem Zeug hatten sie noch gekippt? Es war jedenfalls Zeit, schlafen zu gehen. Aber warum war es dann noch so hell? Nein, da konnte man noch nicht ins Bett! Er rappelte sich von der Couch auf, ging in die Küche und drehte den Wasserhahn voll auf. Das kalte Wasser über dem Kopf brachte ihn ein wenig zu sich.
Mit dem Küchentuch rubbelte Florian sich die Haare ab, während er zurück in den Wohnraum ging und sich erneut auf die Couch fallen ließ. Sein Blick fiel auf das Tagebuch seiner Oma.
Schwungvoll blätterte er die Kladde auf. Er fand den Eintrag über das Haus der Madame Keroas wieder, wo die junge Marlene einquartiert worden war – das Haus, das noch im Krieg zerbombt worden war – und dann las er den nächsten Eintrag, vom 8. September 1942 …
»Obs stüürmt ooder schneit«, singt Traute, aber Gisela protestiert. Sie wollen ein Wanderlied singen, also Das Wandern ist des Müllers Lust. Marlene fällt mit ein, und zuletzt schließt auch Traute sich ihnen an.
Der Pfad ist zu eng, um nebeneinander zu gehen. Marlene führt den Zug an, ihr folgt Gisela, und Traute, die Langsamste, bildet das Schlusslicht. Jetzt wird der Pfad aber noch steiler, und Traute ruft von hinten: »Halt! Ich kriege keine Luft mehr!«
»Das Atmen ist der Traute Frust«, singt Marlene, und Gisela schüttelt sich vor Lachen.
»Habt ihr schon einmal etwas so Schönes gesehen?«, fragt Marlene ihre Freundinnen und lässt sich auf einen Felsbrocken sinken. Weit, weit unter ihnen liegt das Meer, und seine Farbe ist türkisblau.
»Ein echter Sommerfrischetag!«, ruft Gisela aus.
»Aber lasst uns weitergehen, zum deutschen Dorf«, drängelt Traute.
»Du hast doch gesagt, du kriegst keine Luft mehr beim Wandern«, bemerkt Gisela. Sie und Marlene wechseln einen Blick. Traute wollte unbedingt mitkommen bei ihrem Wanderausflug, dem ersten richtigen Ausflug, den sie machen. Dabei wandert Traute nicht gern, und manchmal ist sie ja so ein Spielverderber.
Marlene steht auf. Sie können auch weitergehen, wenn Traute das will. Gisela sagt, dann soll Traute auch vorgehen. Die gibt zurück, dass sie dann auch das Lied aussuchen will. Also singen sie doch das Panzerlied, aber nur einmal. Marlene weiß sowieso, warum Traute das singen will: weil ihr Bruder in der Wehrmacht und ein Held ist, behauptet Traute. Giselas Bruder ist in der Luftwaffe. Nur Marlene hat weder Bruder, noch Schwester, und kann da nicht mitreden.
Mit dem Schatten der Pinienhaine ist es bald vorbei, vor ihnen erstreckt sich baumlose Heidelandschaft.
»Könnt ihr irgendwo eine Ziege sehen?«, fragt Gisela, wegen des lustigen Namens des Südkaps von Crozon, Cap de la Chèvre.
»Nö«, sagt Marlene. »Nur Heidekraut, Farne und Brombeerranken. Und den Himmel und das Meer.«
»Aber das Dorf, das muss gleich kommen, oder?«, beharrt Traute.
»Jaaa«, sagen Marlene und Gisela im Chor.
Als Marlene sie auf das Summen der Bienen aufmerksam macht, meint Gisela, das gebe Heide-Honig. Die Bemerkung macht den Freundinnen Appetit und sie rasten, um ihre Stullen zu essen. Traute hat hartgekochte Eier mit, die sie teilen, und Marlene drei Äpfel. Was für ein Festessen! Wie schön ist es, Freizeit zu haben! Heute merkt man gar nichts vom Krieg. Heute ist es, wie Gisela gesagt hat: ein echter Sommerfrischetag!
Nach dem Essen haben sie Durst, aber kein Wasser mehr. Das Dorf taucht noch immer nicht auf, auch nicht nach einer Dreiviertelstunde weiterwandern. Das neue Dorf oder das deutsche Dorf, wie es genannt wird, ist ihnen zur Einkehr empfohlen worden. In Windeseile wurde es als Unterkunft für ihre Soldaten gebaut; was die zum Leben gebraucht haben, wurde angesiedelt. Jetzt ist es ein richtiges Dorf, und es wächst weiter.
Traute meint, vielleicht sind sie schon an dem Dorf vorbei, aber Marlene sagt, das kann nicht sein, sie sind immer die Steilküste entlang gegangen. Eben, erwidert Traute, das Dorf liegt bestimmt nicht so nah am Abgrund. Also schlagen sie sich nach rechts in die Heide. Tatsächlich geraten sie bald auf einen richtigen Feldweg, und dann sehen sie ein einsames Haus. Als sie näherkommen, lesen sie auf einem roten Schild über der Tür: Chez Gégé.
»Da können wir etwas trinken«, freut sich Gisela. Sie waren noch nie in einem einheimischen Lokal, ein echtes Abenteuer!
Читать дальше