Drinnen müssen sich ihre Augen erst daran gewöhnen, dass es hier so viel dunkler ist. Ein Tresen, fünf oder sechs Tische. Nur ein alter Mann sitzt allein an einem Tisch. Sonst niemand.
»Es ist komisch hier, lasst uns zum Dorf weitergehen«, murmelt
Traute.
»Ach, papperlapapp!« Gisela setzt sich an einen Tisch, Marlene neben sie.
Der Wirt, den sie gar nicht gesehen hatten, kommt auf sie zu. »Bonjour, les demoiselles. Vous voulez boire quelque chose?«
»Cidre, s’il vous plaît!«, ruft Gisela aus.
»Du willst Alkohol trinken, am Nachmittag?«, fragt Traute entgeistert, als der Wirt gegangen ist.
»Wir sind nicht im Dienst, oder?« Gisela lacht.
Der Wirt kommt mit zwei Flaschen und drei Trinkschalen aus glasierter Keramik. »Trois bolées, du Doux et du Brut. Pour goûter«, der Wirt zwinkert ihnen zu.
Gisela schenkt ein. Sie stoßen an und sind überrascht: Der Apfelwein ist süß und süffig. Sie haben Durst, die Flasche ist schnell geleert. Sie haben nicht den Eindruck, viel Alkohol getrunken zu haben. »Deshalb hat er gleich zwei Flaschen hingestellt«, meint Marlene und schenkt aus der zweiten Flasche nach. Aber das ist ein anderer Cidre, herber als der erste. Sie streiten sich darüber, welcher der bessere ist.
Unterdessen hat sich die Bar gefüllt. Nach und nach sind immer mehr Leute gekommen. Alles nur Männer. Sie werden verstohlen von allen Seiten beobachtet, stellt Marlene fest; verstohlen und misstrauisch.
Aber der Wirt ist freundlich. »Alors, c’est bon, le Cidre?«, ruft er ihnen von hinter dem Tresen zu.
Die Freundinnen nicken und strahlen ihn an.
»Vous voulez goûter autre chose?«
»Was will er?«, fragt Traute, die nicht so gut Französisch kann.
»Er bringt uns noch etwas anderes zum Trinken«, erklärt Gisela. Auf dem Tablett des Wirts stehen drei kleine Gläser und zwei neue Flaschen. Er stellt alles vor ihnen auf den Tisch und schenkt aus der dunkelgrünen Flasche zuerst ein. Die Flüssigkeit in den Gläsern ist goldbraun.
»Das ist was Starkes«, sagt Traute misstrauisch.
»Komm schon, probiere«, sagt Marlene und hebt ihr Glas.
Ein Mann mit Mütze nickt ihr zu. »C’est bon, le Chouchenn«, ruft er. Marlene probiert. Sehr süß, und sehr stark, wie Traute gesagt hat.
»Schmeckt nach Honig«, sagt Gisela.
»Schmeckt nach Medizin«, sagt Traute und verzieht den Mund. Ein paar Einheimische lachen.
»Et après, le Lambig«, sagt der Wirt und zeigt auf die andere Flasche.
»Oh nein, tut es nicht, Mädels«, warnte Florian.
»Ich werde betrunken, wenn ich so viel und schnell trinke«, kichert
Marlene.
»Siehste, Oma.«
»Auf ex!« Gisela trinkt erst einmal das Glas mit dem Honigschnaps leer.
Kaum, dass sie ausgetrunken haben, schenkt der Wirt von dem anderen Zeug ein. Es sieht nicht sehr viel anders aus als das von eben.
»Yehermat«, ruft der alte Mann am Nachbartisch ihnen zu.
»Prost«, rufen sie zurück und trinken.
Marlene hustet, das brennt! Der alte Mann, der ihnen zugeprostet hat, lacht und klopft auf den Tisch. Aber Traute setzt ihr Glas ab und sagt: »Das ist lecker!«
»Dann nimm noch einen«, und Gisela gießt Traute nach.
Als sie aus der Bar in die Sonne treten, fühlt Marlene sich leicht und lustig. Jetzt weiß sie, was ein echter Schwips ist.
»Au revoir«, ruft Gisela lachend über die Schulter zurück.
»A la prochaine«, hören sie den Wirt zurückrufen.
Traute hat Mühe, geradezugehen. Sie hat am meisten von dem Lambig getrunken.
»Was singen wir jetzt?«, fragt Marlene.
Traute fängt schon wieder mit dem Panzerlied an, aber Marlene und Gisela übertönen sie mit Oh Tannenbaum. Danach einigen sie sich auf Kling Glöckchen klingelingeling.
»Jetzt sind wir schon wieder falsch«, ruft Traute aus, als sie bald darauf an den Abgrund treten.
»Hu, mir ist schwindelig«, giggelt Gisela.
»Wir wollten zum Dorf«, mault Traute.
»Du mit deinem Dorf! Du willst dir wohl ’nen Soldaten anlachen!« Gisela lacht überdreht.
Marlene muss mitlachen.
»Sei du nur still«, faucht Traute sie an, »so wie du bei Leutnant Rosen Liebkind machst!«
»Was? Rosen?!«, ruft Marlene aus, mehr belustigt, als empört.
»Stimmt schon, dass er dich auffallend oft anspricht«, bemerkt Gisela und legt den Kopf schief. »Viel Spaß mit dem. Gratulation, Marlene!«
»Du spinnst ja«, protestiert Marlene, nun doch verärgert.
»Nein, Gisela hat Recht«, setzt Traute nach.
»Und du, sei still! Du willst ja nur in das Dorf, weil du sowieso zu faul zum Wandern bist!« Und sie äfft Trautes Gejammer von vorhin nach: »Ich krieg’ keine Luft mehr! Ich bin außer Atem! Oh lasst uns atemlos das Panzerlied singen!«
Gisela kann nicht aufhören zu lachen.
Traute reißt die Augen auf, wendet sich ab und beginnt zu laufen.
»Was ist jetzt?«, fragt Marlene.
»Jetzt ist sie beleidigt«, gibt Gisela prustend zurück.
»Traute, es war doch nur Spaß«, ruft Marlene halbherzig, aber die Beleidigte rennt nur noch schneller.
»Vorsicht!«, ruft Gisela noch, plötzlich nüchtern, aber da passiert es: Traute rutscht auf dem Geröll aus – und stürzt in den Abgrund!
Sie weiß nicht, wie sie dorthin gekommen ist, aber als Marlene wieder klar denken kann, starrt sie in die Tiefe.
»Traute! Nicht bewegen!«, schreit Gisela neben ihr.
Gut vier Meter unter ihnen liegt Traute auf dem Rücken. Ein Auswuchs des Felsens hat sie gerettet. Unter ihr, gähnende Leere; dann, ganz weit unten, das anrollende Meer. Trautes Bein sieht merkwürdig verrenkt aus.
»Wir brauchen Hilfe«, sagt Marlene, »aus der Bar!«
»Du oder ich?«, fragt Gisela. Marlene stürzt los.
Der Schock hat sie ernüchtert. Sie läuft, was sie laufen kann. Der
Weg kommt ihr weit vor. Endlich, das Chez Gégé!
»Hilfe, à l’aide«, bringt Marlene hervor. Sie sieht in fragende, fast irritierte Gesichter. Sind die Leute hier noch mehr geworden? Alles ist so verqualmt.
Der Wirt tritt auf sie zu.
»Traute, mon amie! Tombée!« ruft Marlene verzweifelt.
Der Wirt nickt langsam. Er verschwindet in einem Nebenraum. Als er zurückkommt, trägt er ein zusammengerolltes Seil und eine Schaufel über der Schulter. Vier weitere Männer begleiten sie zu der Absturzstelle.
»Endlich!«, ruft Gisela ihnen entgegen.
Der Wirt schaut hinab. Traute liegt noch so da wie vorhin. Sie schluchzt hysterisch, will oder kann sich nicht bewegen.
Während einer der Männer das Seil um seine Hüften knotet, gräbt ein anderer eine Rille. Marlene begreift. Die Rille soll den Füßen der Männer Halt geben, die das Seil halten werden.
Es ist so weit. Der Angeseilte klettert zu Traute. Er beugt sich über sie, tastet sie ab. »C’est son genoux!«, ruft er nach oben.
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