Die groteske Figur des dicken Mannes, vielleicht ein Mönch, und das affenartige Löwenviech waren noch da, auch die brutal aussehenden Wasserspeier. Einen davon musste er doch noch skizzieren; dieser Wasserspeier glich einem Krokodilmaul mit Riesenzähnen, die ineinander verkantet waren. Vorne sah man das Loch für das abfließende Wasser. Florian setzte ein paar letzte Striche auf das Blatt und hielt inne. Sie war unheimlich, diese Begegnung mit den steinernen Zeugen der Vergangenheit seiner Oma. Es war fast, als würde er eine Zeitreise machen und Dinge sehen, die niemand sehen durfte. Andererseits wollte seine Oma, dass er sie sah. Sonst hätte sie ihm ihr Tagebuch nicht gegeben.
Plötzlich hatte er keine Geduld mehr zum Weiterzeichnen. Von wo aus hatte seine Oma sich damals der Kirche genähert? Jetzt sah er es. Nur nach hinten, zum Berg hin, war in der Kirchhofmauer eine Öffnung, eine Einfahrt. Von dort also. Von dort musste Marlene in den Kirchhof gefahren sein, bei Nacht und Unwetter auf einem Motorrad, festgeklammert an diesen Kriegsgefangenen, den sie nur den
»Jungen« oder einfach »er« nannte oder einmal ihren »neuen und einzigen und unmöglichen Freund«.
Florian betrat die Kapelle. Diesen Augenblick hatte er sich für zuletzt aufgespart. Würde sie noch so aussehen, wie Marlene es beschrieben hatte?
Es war nicht mehr 1942, und für die modernen Touristen hatte man Scheinwerfer angebracht, die die Altarwand beleuchteten. Florian überkam eine Gänsehaut. Er tat es dem Oberst nach und schritt die Reihe der Heiligenfiguren ab, deren Farben nicht verblasst waren. Sie schienen unheimlich lebendig in ihren Nischen oder auf ihren Sockeln für ihn zu posieren.
Hatte der Oberst das hier sehen wollen? Und zwar unbedingt, nicht als Barbar, sondern dank des Schlüssels, den der Chauffeur aus dem nächstgrößeren Dorf holen musste? Für Konspiratoren hatte der sich doch nicht interessiert! Dabei, dieser Mann, der bei Nacht und Gewitter in der Kirche aufgetaucht war, war der nicht im Widerstand gewesen? Und der junge Kriegsgefangene selbst? Konnte er im Widerstand und zugleich ein Kriegsgefangener gewesen sein?
Florian trat hinaus in das blendende Licht. Er würde zu Fuß den Berg besteigen, beschloss er. Er hatte gesehen, dass es von der Kapelle aus einen Wanderweg zum Gipfel gab.
Marie fuhr an der Chapelle Sainte-Marie vorbei auf den Parkplatz. Es war ein idealer Tag zum Wandern – klarer Himmel, heiße Sonne, aber ein erfrischender Wind. Sie hatte die Nase voll von Gartenarbeit, sie brauchte mal eine Abwechslung.
Sie holte den Rucksack aus dem Kofferraum. Er enthielt zwei große Baguette-Sandwiches, einen Apfel und eine Flasche Wasser zum Picknicken. Dass der deutsche Cayenne am anderen Ende des Parkplatzes stand, bemerkte sie nicht.
Sie machte einen Haken über den Kirchhof und grüßte die schöne, aber etwas finstere Kapelle. Dann ließ sie sie im Rücken, um der Landstraße ein Stück weit zu folgen. Die wand sich, begleitet von einem glucksenden Bachlauf, in ein Tal hinunter. Aber Marie wollte hinauf; also bog sie bald in einen steilen Schotterweg ein, dessen Steine in der heißen Sonne weiß aufleuchteten. Auch die staubige Erde war weißlich-beige. Nach ein paar Hundert Metern endete der Weg vor einem Schild, das daran erinnerte, dass man sich in einem Naturschutzgebiet befand, in dem Fahrzeuge verboten waren. Der Fußpfad, auf dem es jetzt weiterging, wäre ohnehin für kein Fahrzeug befahrbar gewesen, meinte Marie kopfschüttelnd.
Sie kraxelte über Felsbrocken und Wurzeln, die sich hartnäckig im Boden festkrallten. Auf dieser Höhe des Berges wuchsen noch spärliche Haine aus windgebeutelten Kiefern. Nachdem sie eine Kieferngruppe durchschritten hatte, schaute Marie sich um: Unter ihr, bereits in der Ferne, lag die Chapelle Sainte-Marie, umgeben von gelben Feldern mit Heuballen und frischgrünen Weidewiesen. Weiter links erstreckten sich die Hügel in Richtung Châteaulin, bedeckt mit Feldern und Wäldern. Rechts sah man einen Streifen Blau am Horizont – das Meer.
Marie atmete auf und schritt weiter. Der Wind zerzauste ihr Haar. Der Wind war auf dem Ménez-Hom immer da, oft genug stürmisch. So stieß sie bald nur noch auf vereinzelte Bäume, denen man ihren Kampf mit den Stürmen ansah: Ihr Astwerk war dünn, an der Nordseite manchmal gänzlich abgebrochen, so dass die Bäume wie Schilder gen Süden zeigten. Hin und wieder ragten ganz nackte Stämme wie Pfähle aus dem Boden. Die hohen Gräser, die den Ménez-Hom überzogen, neigten sich und blitzten in der Sonne auf wie grüne Wellen.
Ganz oben, auf dem yed, würden Menschen sein; ein Fahrweg führte dorthin, der Genuss der Panoramaaussicht war beliebt. Doch hier, um Marie herum, war keine Menschenseele. Nur Weite, Stille, das Rauschen des Windes. Und dann doch eine einsam dahinwandelnde Silhouette – ein zweiter Wanderer hatte zum Besteigen des Berges seine Füße dem Auto vorgezogen.
Sie folgte ihm in einiger Distanz, bis sie bemerkte, dass der Abstand zu ihm sich verringerte. Zunächst beschloss sie, ihrerseits langsamer zu gehen. Dann wurde ihr das zu nervend, zumal die Person stehengeblieben war, um etwas zu fotografieren. Was hatte der Wanderer entdeckt, fragte Marie sich? Einen Hinkelstein oder den Rest eines Hünengrabs? Die Kelten hatten auf dem Ménez-Hom Belen gehuldigt, dem Gott des Lichts. Außerdem gab es hier noch Mauerreste zu sehen, bei denen man nicht mehr wusste, ob sie von den Kelten stammten, von der Festung Aiqins des Normannen oder schlichtweg vom Teufel, wie der Volksmund behauptete. Manche Grundsteine hatten den Umriss eines marc’h, eines Pferdes, was schließlich nicht mit rechten Dingen zuging.
Als der Wanderer sich umdrehte, um seinen Rucksack aufzuheben, blitzte etwas weiß an seiner Hand auf. Ein Verband. Oh nein! Er!
Aber auf ein Treffen mit diesem Florian hatte Marie nun gar keine Lust! Entsprechend erleichtert war sie, als sich ein paar Minuten später ihre Wege trennten: Der Deutsche überquerte die Fahrstraße zum Gipfel und folgte weiter dem Fußpfad; Marie würde folglich den Fahrweg hochgehen. Als sie sich wenig später noch einmal umwandte, hatte der blöde Kerl es sich allerdings anders überlegt. Er ging nun hinter ihr die asphaltierte Straße hoch. Na toll!
Auf dem Parkplatz am Ende der Straße schloss Marie sich kurzerhand einer Gruppe von Ausflüglern an. Sie wandte sich um, wo war er? Da! Schnell wandte sie ihm den Rücken zu, als er an ihrer Gruppe vorbeiging. Jetzt schlurfte er auf den steinernen Rundtisch zu, der den höchsten Punkt des Berges markierte, stemmte die Hände in die Hüften und schaute um sich. Unschlüssig schlenderte er ein paar Schritte weiter, blieb dann abrupt stehen. Er zückte den Fotoapparat und drückte ab. Aber da war doch gar nichts, wunderte Marie sich. Nur die gelbe Markierung des Wanderweges. Jetzt schaute der Deutsche sich eifrig nach allen Seiten um. Er schien etwas Interessantes entdeckt zu haben, denn er hastete los.
Marie trat aus der Ausflüglergruppe heraus. Sie musste wissen, was ihren Nachbar derart gefesselt hatte. Der stapfte durch hohes Gras auf ein Buschmassiv zu. Vielleicht musste er mal, dachte sie und blieb lieber stehen. Aber dann zückte er wieder die Kamera – und fotografierte die Büsche. Er ging um die Büsche herum und knipste sie aus anderer Perspektive. Dann hatte er ein weiteres Buschmassiv entdeckt – es gab nicht viele hier oben – und nahm Kurs darauf. Hatte der einen Knall?
Marie näherte sich ihrerseits dem Grünzeug, das Florian begeistert und systematisch abgelichtet hatte. Und jetzt sah auch sie es: Inmitten des Buschmassivs war eine Treppe! Unten war das Fundament eines Kellers, überwuchert von Efeu, Farn, Gräsern, Brennnesseln und Dornenranken. Ein Keller? Nein! Das Baumaterial war Beton, erstaunlich intakt, nur hier und da von lichen überzogen, gelblichem Moos. Der Rest eines Bunkers.
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