Der Baumstamm liegt quer über der Straße. Ein bloßer Pfahl, ohne Äste, die Reste eines toten Baums. Wäre das Ding auf das Verdeck des Kübelwagens gefallen, sie hätten selbst tot sein können. Das ging noch einmal gut. Aber jetzt kommen sie hier nicht weiter.
Der Junge schiebt sie zurück in den Wagen. Mit Mühe gelingt es ihm, die Tür zu schließen. Jetzt sitzen sie fest, auf halber Höhe dieses entsetzlichen Berges, der der Hölle gleicht! Marlene hat Angst. So etwas hat sie noch nie erlebt, nicht für denkbar gehalten. Sie krallt die Hände in die Sitzbank, jedes Mal, wenn ein neuer Donnerschlag ihr die Ohren zerreißt. Der Wagen steht, aber er vibriert verdächtig, manchmal ruckt er so, dass sie denkt, nun reißt der Sturm sie fort in das Tal. Und dann, dieser Auftrag! Selbst wenn sie es könnte, sie darf nicht zurück. Sie muss ja nach da oben!
»Wir warten«, sagt der Junge und lächelt ihr zu. Zaghaft lächelt Marlene zurück.
Sie weiß nicht, wie lange sie schon da sitzen. Das Unwetter tobt mit unablässlicher Wucht. Nur hagelt es nicht mehr. Regenfluten stürzen auf sie herab. Blitze überziehen noch immer den Himmel, der nun komplett schwarz ist. Marlene hält sich noch immer mit beiden Händen am Sitz fest.
»Du hast Angst?«, fragt der Junge.
Sie sollte ihm das vertrauliche »Du« verweisen. Aber die Frage kam so freundlich. Marlene schießen Tränen in die Augen. Die Frage kam wie von einem Freund. »Ja«, sagt sie und wendet das Gesicht ab.
»Ça ira«, hört sie den Jungen sagen, »es wird gehen.«
»Ich hoffe, es wird bald weggehen«, versucht Marlene ein Wortspiel. Sie weiß nicht, ob der Bretone das versteht.
»Bald heißt bientôt, nicht wahr?«
Marlene bejaht das.
»Es wird bald weggehen«, behauptet der Junge. »Aber nicht sehr bald«, fügt er hinzu.
»Das dachte ich mir.«
Sie sitzen wieder eine lange Zeit schweigend. Marlene ist in ihren Gedanken zuhause, bei ihren Eltern, von denen sie seit Wochen nichts mehr gehört hat.
»Jetzt wird es bald weggehen«, verkündet der Junge nach einiger Zeit und reißt sie aus ihren Träumen.
Ach ja? Noch immer regnet es in Sturzbächen, es blitzt und donnert. Aber es stimmt, die Abstände dazwischen sind größer geworden, und der Kübelwagen ruckt nicht mehr so bedrohlich im Sturm.
»Nach oben?«, fragt der Junge.
»Ja, nach oben«, gibt Marlene entschlossen zurück.
»Auf einem anderen Weg«, sagt er.
»Gut«, stimmt sie zu. Ihr ist bewusst, dass der Erfolg ihrer Mission damit ganz von dem Jungen abhängt. Sie weiß nicht, wo sie sind und wie sie jemals den Gipfel erreichen sollen.
Der Junge dreht den Zündschlüssel. Nichts. Er versucht es noch einmal. Der Motor des Kübelwagens bleibt stumm. »Dame, ha!«, schimpft der Junge.
Marlene ist erschrocken. Nun hängen sie wirklich fest, in Nacht und Einöde. Sie friert und ist hungrig. Und sie hat einen Auftrag. »Was machen wir?«, rutscht es ihr heraus. Sie schämt sich, sie weiß, sie sollte Befehle erteilen.
»Warte«, sagt er und springt hinaus, in das verregnete Chaos. Marlene reißt ihre Tür auf. »Wo willst du hin?«, schreit sie, sie kann
ihn nicht sehen.
»Warte im Auto«, hört sie ihn, dann nichts mehr. Marlene schließt die Wagentür. Jetzt ist sie allein.
Marlene hat sich auf dem Sitz zusammengerollt, die hochgezogenen Knie hält sie zwischen den Armen. Sie hat einmal versucht, aus dem Wagen zu steigen und zu Fuß Richtung Gipfel zu gehen, aber sie musste nach wenigen Metern zurück in den Schutz des Wageninneren. Sie weiß nicht, ob der Junge zurückkehren wird. Wahrscheinlich nicht. Warum sollte er? Es ist seine Chance, der Kriegsgefangenschaft zu entfliehen.
Obwohl sie steif vor Kälte ist, nickt sie ein. Ein Geräusch bringt sie zu sich – das Geräusch eines Motors. Sie rappelt sich auf, öffnet die Tür. Ein gelbliches Licht ist hinter dem Wagen aufgetaucht – der Scheinwerfer eines Motorrads
»Tu viens?«, ruft der Junge.
Während sie ungelenk aus dem Laster klettert, fragt Marlene sich, wo er das Motorrad herhat. Nun hat er es gewendet. Sie steigt hinter ihm auf. Sie ist noch nie Motorrad gefahren. Zögernd legt sie die Arme um ihn. Dann ruckt es, als er Gas gibt, und sie drückt sich fester an ihn.
Er fährt nicht schnell, trotzdem reißt die Luft an ihnen, es ist noch genug von den stürmischen Windböen da. Der Regen peitscht ihr in das Gesicht, sie drückt den Kopf auf die Schulter des Jungen. Sie fahren bergab. »Wir müssen hoch«, ruft sie ihm ins Ohr.
»Je sais«, ruft er zurück.
Sie legt das Gesicht wieder auf die schützende Schulter. Sie gleiten durch Nacht und Regen. Es fühlt sich nach Gefahr an, aber es ist kein nur schreckliches Kribbeln. Bis sie von der Straße abbiegen. Plötzlich hüpft das Motorrad, sie fahren über Erde und Stein. Das Hinterrad rutscht manchmal kurz weg, auf dem nassen und unebenen Boden, Marlene muss sich mit aller Kraft ihrer taub werdenden Hände am Jungen festhalten, um nicht vom Beifahrersitz zu gleiten. Lange wird sie diese Fahrweise nicht mehr aushalten. Doch sie fahren bergauf – es kann nicht mehr weit sein?
Ein Donnerschlag lässt sie zusammenzucken. Marlene fällt auf, wie lange nur noch das Prasseln des Regens und das Rattern des Motors zu hören gewesen waren, sonst nichts mehr. Wo kommt der Donner erneut her? Ein Netzwerk von Blitzen überspannt den Himmel. Sie sieht eine Mondlandschaft um sich, ohne Bäume, hier und da weiße Formen, Gestein. Der Junge flucht, stoppt das Motorrad. »Ça recommence«, stellt er fest.
Es geht wieder los, ja, Marlene sieht es. Das Motorrad steht, mit laufendem Motor.
»Ist es noch weit?« schreit Marlene, um den Donner zu übertönen. Aber in dem Moment weiß sie schon selbst, dass der Gipfel des Berges zu weit unter diesen Umständen ist.
»Nach unten! Wir müssen!«, hört sie den Jungen.
»Ja«, ruft sie. Und dann geht es wieder los. Der Wind ist kein Wind mehr, er nimmt ihnen den Atem, der Junge hat Mühe, das Motorrad auf seiner Spur zu halten, sie rasen bergab, der Junge bremst nicht, er weiß, es ist ein Wettlauf mit der Zeit, das Unwetter wird schlimmer werden! Es ist ein Sturzflug, Marlene hat Panik, zigmal meint sie, sie stürzen, aber es geht immer weiter, sie springen über etwas, das im Weg lag, das Motorrad kommt schlingernd wieder auf, und weiter, nach unten, immer weiter, nur geben Marlenes jetzt taube Hände nach, sie spürt es … Der Junge schreit etwas, sie kann ihn nicht verstehen, aber es wirkt: Sie nimmt sich zusammen, drückt ihre Finger, die sie nicht mehr fühlt, um den Körper zusammen, an den sie sich festhält, der ihr einziger Halt ist.
Dann rollen sie plötzlich über Asphalt. Das Motorrad beschleunigt. Die Hoffnung gibt Marlene neue Energie. Sie spannt den schmerzenden Körper an, das Motorrad jagt einen Hügel hinauf, sie rollen langsamer, dann an einer Mauer vorbei auf weichen Untergrund. Die Räder drehen durch, lassen Schlamm auffliegen, dann greifen sie, und langsam schlingern sie auf ein Gebäude zu. Sie halten an der Wand der Kirche.
Mit zittrigen Beinen steigt Marlene ab. Fast sinkt sie zu Boden. Sie ist am Ende. Sie lehnt sich an die Kirchenwand, neben das Motorrad. Der Junge nimmt sie am Ellenbogen, zieht sie mit sich. Sie gehen immer an der Kirchenwand entlang, dann stoßen sie auf ein Portal. Der Junge drückt die schwere Klinke, zu Marlenes Überraschung schwingt das Portal auf. Sie treten ein.
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