Es riecht muffig. Die Kälte ist nicht geringer als draußen. Doch es ist trocken hier, und das Tosen des Unwetters dringt nur gedämpft durch die dicken Mauern.
Der Junge bewegt sich sicher durch den finsteren Raum, springt über etwas hinweg. Dann ein Zischen, eine Flamme. Das Zündholz erlischt, doch wird sein kleines flackerndes Licht durch das warme, größere einer Öllampe ersetzt. Wo kommt sie her? Der Junge steht hinter einer Balustrade. Er steht in einem hellen Glanz, der nicht nur von der Lampe herkommt. Marlene staunt. Sie tritt näher an die Balustrade heran. Goldgeflimmer überall, Augen, die über sie hinweg in die Kirche schauen, dramatische Gesten, rote und blaue und gelbe Gewänder – es sind nur die Statuen von einem Altaraufbau, aber der erstreckt sich über den Lichtschein der Öllampe hinaus über die ganze Rückwand der Kirche.
»Voilà«, der Junge reicht ihr etwas über die Balustrade, es ist weich, eine Decke. Marlene legt sie sich ungelenk um. »Komm«, fordert der Junge sie auf und leuchtet ihr den Weg bis zum Altar, wo die Balustrade sich öffnet. Marlene scheut sich ein wenig davor, den Altarbereich zu betreten, aber der Junge nimmt sie an der Hand und zieht sie zu sich. Er stellt die Öllampe auf den Boden und macht Marlene Zeichen, sich zu setzen. Dann lässt er sich neben sie fallen.
»Die Schuhe«, sagt er schlotternd und zieht seine Schuhe aus. Marlenes Finger sind taub. Der Junge muss ihr helfen, ihre durchnässten Schuhe auszuziehen. »Die Jacke«, sagt er dann mit klappernden Zähnen. Er zieht seine aus und hängt sie über die Balustrade, dann die von Marlene. Der Junge wickelt sie fest in ihre Decke. »Le reste séchera«, versichert er.
»Ich glaube nicht, dass hier etwas trocknet«, antwortet Marlene, deren Zähne ebenfalls klappern.
»Tu parles français?«, bringt der Junge heraus.
»Ein wenig.«
Sie schweigen, lauschen dem Gewitter da draußen und dem Klappern ihrer Zähne. Die Decke tut gut, aber sie reicht nicht aus. Und der Junge hat gar keine.
»Tu as froid?«, bringt er nach einer Weile schlotternd hervor.
»Weniger als du«, sagt Marlene. Sie wickelt sich aus ihrer Decke und reicht ihm einen Teil. Er rückt näher an sie heran und sie legen die Decke um sie beide. Es ist das erste Mal, dass Marlene einem Jungen so nah ist. Sie berührt aus Versehen seine Hand, sie ist eiskalt. Nach und nach hört Marlene auf zu zittern und die Erschöpfung überwältigt sie. Im Halbschlaf lässt sie sich fallen, gegen den Jungen, wie sie noch restweise wahrnimmt. Er fühlt sich angenehm warm an.
Ein Lichtschein dringt durch ihre geschlossenen Augen. Blinzelnd versucht Marlene zu erkennen, was los ist. Jemand leuchtet ihr in das Gesicht. Der Junge brummt wie ein verschlafenes Kind, das nicht geweckt werden will. Dann plötzlich ist er doch wach, springt auf, verfängt sich in der Decke. Er sagt etwas zu der Person mit der Lampe. Die Worte kann Marlene nicht verstehen, sie sind bretonisch. Aber die Stimme des Jungen klingt erleichtert. Er kennt den Eindringling offenbar.
Leise stellt der dem Jungen knappe Fragen. Er leuchtet ihr erneut voll in das Gesicht. Marlene dreht sich fort. Sie versteht: Der Fremde will wissen, was sie hier zu suchen hat. Wer ist das? Was macht er hier, mitten in der Nacht? Will auch er sich vor dem Unwetter schützen? Was machte er dann da draußen? So lange nach Sperrstunde! Wer schleicht nach der Sperrstunde noch herum, wenn nicht …? Diese Decke und diese Öllampe in der einsamen Kapelle, die nicht abgeschlossen war. Marlene drückt sich mit dem Rücken an die Balustrade, an der sie lehnt, intuitiv zieht sie die Decke um sich zusammen. Weglaufen würde nicht helfen. Wohin sollte sie? Sie meint, in der Hand des Mannes, die er in seiner Jackentasche hält, etwas Eckiges, Großes zu erkennen – eine Waffe. Es ist kein Problem für den Fremden, sie auf der Stelle zu töten. Niemand sieht es, niemand hört es. Marlene schaut flehentlich zu dem Jungen.
Überraschend ruhig antwortet der dem Fremden. Ist seine Ruhe nur vorgetäuscht? Marlene weiß es nicht, aber sie fühlt sich selbst ein wenig ruhiger. Sie beobachtet den Mann, dessen Züge sie, noch immer geblendet von der Lampe, nicht ausmachen kann. Doch auch er hat aufgehört mit seinen brüsken Schritten vor und zurück, mit seinen zackigen Gesten. Er hört den Erklärungen des Jungen zu, den Rechtfertigungen, warum sie, Marlene, hier ist. Ihr Herz pocht wild. Der Mann ist noch nicht zufrieden mit den Erklärungen, seinerseits hebt er zu einer Rede an, es klingt wie ein Sermon, er liest dem Jungen die Leviten, aber nicht mehr so böse, mehr wie ein großer Bruder den kleinen zurechtweist. Der Junge hört sich alles an, dann sagt er wieder ein paar Sätze in diesem Tonfall, der eine so große Ruhe ausstrahlt.
Der Fremde senkt den Kopf. Jetzt wird über sie gerichtet, weiß Marlene. Noch kann sie aufspringen, durch die dunkle Kapelle rennen, sich zumindest nicht wie ein zusammengekauertes Kaninchen erschießen lassen. Sie fängt einen Blick des Jungen auf. Hat er ihr zugezwinkert?
Der Mann brummt etwas vor sich hin und boxt den Jungen gegen die Schulter. Der legt dem Mann einen Arm um den Hals. Der Mann gibt ihm einen Klaps auf den Hinterkopf. Dann stellt er ihre Öllampe ab und geht. Marlene sieht ihm nach, wie er im Dunkeln außerhalb des Lichtkegels verschwindet. Sie kann es kaum fassen. Da dreht sich der Fremde noch einmal um und sagt etwas, das ermahnend klingt, trotz allem bedrohlich. Marlene will, dass er endlich weggeht! Das Kirchenportal schlägt zu. Danke, lieber Gott. Sie ist nicht besonders gläubig, aber sie wiederholt innerlich ihr Stoßgebet.
Der Junge setzt sich neben sie, sie reicht ihm seinen Teil der Decke und er legt ihn wortlos um sich. Er lächelt ihr zu. »Alles gut«, sagt er. Ja, sie weiß das. Sie hat keine Scheu mehr davor, sich an ihn zu lehnen, den Kopf an seine Schulter. Sie schließt die Augen und schläft wieder ein.
Sie wacht auf, weil etwas fehlt. Seine Wärme, sein Geruch. Marlene schaut um sich. Dämmerlicht erfüllt die Kapelle. Sie steht auf, er ist fort. Ja, fort, seine Jacke und Schuhe liegen nicht mehr an ihrem Platz. Natürlich, jetzt endlich hat er die Gelegenheit ergriffen zu fliehen.
Marlene zieht ihrerseits Jacke und Schuhe an. Alles noch klamm, aber nicht mehr triefend. Sie tritt vor die Kapelle. Die Sonne steht noch niedrig, ein leichter Dunst liegt über der Erde. Aber regnen tut es nicht mehr. Es riecht nach Feuchtigkeit und Laub – zum ersten Mal riecht es nach Herbst, nach Oktober. Marlene wandelt von der Kirche fort, um sich einen versteckten Ort für ihr Bedürfnis zu suchen und die steifen Glieder zu bewegen. Sie geht einmal um die Kapelle herum. An der Frontseite, am Rande der Landstraße, steht der Junge neben dem Motorrad, dessen Sitze er mit dem Ärmel abwischt. »On y va?«
Marlene strahlt ihn an. Sie kann nicht anders.
Sie besteigen das Motorrad und brausen los. Das Wasser der nassen Straße spritzt unter ihren Reifen. Sie sehen den Sonnenaufgang nicht, die Sonne ist ihnen im Rücken. Aber sie sehen ihren eigenen langen Schatten, der vor ihnen her huscht. Und sie sehen das Licht der Sonne. Sie fahren aus dem Dunst heraus, und die Sonne färbt die Landschaft vor ihnen goldgelb. Es ist ein lebendiges Goldgelb, nicht das feierliche, verfallend-alte des Altaraufbaus in der Kirche. Das goldgelbe Licht tönt die Farne, die Büsche, die Bäume, die weiten Wiesen um sie herum noch grüner. Der gelbe Stechginster am Straßenrand glüht ihnen entgegen, rauscht an ihnen vorbei, liegt schon wieder hinter ihnen. Goldgelb glänzend erstreckt sich zu ihrer Linken das Meer.
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