Marie stieß einen leisen Pfiff aus. Sie sah nach ihrem Nachbar. Der machte gerade Fotos des zweiten Buschmassivs, das er entdeckt hatte. Eine zweite Bunkerruine? Marie sah mit neuem Argwohn um sich. Ja. Es war ihr vorher nie aufgefallen. Aber die einzigen Büsche, die auf der Bergkuppe wuchsen, standen hier, ganz oben auf dem yed, und zwar in ringförmiger Anordnung. Yed bedeutete
»Ausguck«. Seitdem Menschen den Ménez-Hom bestiegen hatten, hatten sie den Berg strategisch genutzt: Von hier aus hatte man ein Dreihundertsechzig-Grad-Panorama und konnte die umliegende Gegend kilometerweit im Auge behalten. Die verdächtigen Buschmassive zeigten wie die Ziffern einer Uhr in alle Richtungen.
Marie ging ein paar Schritte zurück, sie musste etwas überprüfen. Ja, so war es: Dieser Mann, dieser Florian, der ihr gestern Blumendünger geschenkt hatte, dieser Mann hatte vorhin nicht das gelbe Zeichen des Wanderwegs fotografiert. Das Zeichen war aufgemalt auf ein Stück deutschen Weltkriegsbeton.
Marie griff sich an den Kopf. Sie war erschüttert. Sie hatte immer so gerne die Landschaft von hier oben aus gesehen – die Windungen des Flusses Aulne, der in die Bucht von Brest einmündete; die Hügelketten im Osten; die Küsten der Bucht von Douarnenez und von Crozon, die wie zwei gebogene Arme am Horizont aufeinander zustrebten, dazwischen das schimmernde Meer. Sie hatte das alles nie mit einem militärischen Blick angesehen, und es plötzlich zu tun, war ein Schock für sie.
Der noch größere Schock war aber die andere Erkenntnis. Marie fühlte sich schwach. Sie hatte gewusst, dass ihr Nachbar ein rücksichtsloser Klotz mit einem Protzauto war, der auf Blumen und Nachbarinnen keine Rücksicht nahm. Aber das hätte sie ihm doch nicht zugetraut. Pierre hatte Recht gehabt. Florian war kein gewöhnlicher Tourist. Er war in die Bretagne gekommen, um Nazi-Bunker zu fotografieren. Und wenn ein Deutscher das tat, und zwar derart begeistert, dann … war Florian selbst ein Nazi?! Dann war er wohl ein Nazi.
Sie hatte den Eindruck, sich setzen zu müssen; genau in dem Moment setzte er sich, und zwar in den Schatten eines Nazi-Mauerrests, und nun blätterte er in einem schwarzen Heft. Marie wollte gar nicht wissen, was das für ein Heft war! Und diesen Mann – Marie wurde von Schamgefühl überkommen –, diesen Mann hatte sie vorgestern, widerwillig immerhin, beinah sympathisch gefunden; aber nein, es war schlimmer: Bei der Berührung ihrer Finger hatte buchstäblich etwas zwischen ihnen gefunkt!
Sie machte auf dem Absatz kehrt und ging. Sie hatte keine Lust mehr auf wandern.
Vergeblich versuchte Florian sich vorzustellen, wie dieser Berg mit der sagenhaften Aussicht unter deutscher Besatzung ausgesehen hatte. Hier war seine Oma hingeschickt worden, um irgendeinem Offizier diese merkwürdig nichtssagende Nachricht des Obersts zu überbringen. Er holte die Kladde aus dem Rucksack hervor. Also noch einmal, wie war das alles gewesen? Da war die Passage, so hatte alles angefangen …
Marlene ist im Büro des Obersts, auf der Kommandantur. Sie ist überrascht, fast erschrocken darüber, dem hohen Befehlshaber gegenüberzustehen. Er ist noch nicht lange da, gerade eine knappe Woche. Vorher war er im Landesinneren gewesen, Kommandant auf Schloss Trévarez, eine zentrale Schaltstelle der deutschen Besatzung. Mehr weiß Marlene von ihm nicht. Was will er von ihr, einer einfachen Funkhelferin? Sie weiß nicht, was sie erwartet.
Der Oberst fragt, ob sie schon einmal auf dem Ménez-Hom war. Sie bejaht das. Er legt ein Couvert vor ihr auf den Tisch. Es ist versiegelt. Es enthalte eine Botschaft für Oberstleutnant Hähnel. Ob sie sich den Namen merken könne? Jawohl, das kann sie. Die Botschaft sei persönlich abzugeben, an den Oberstleutnant selbst. Der Oberst legt einen von ihm unterzeichneten Passierschein daneben. Er soll den Durchlass zu Hähnel garantieren.
Marlene nimmt beide Dokumente mit klopfendem Herzen an sich. Warum gerade sie? Doch Befehl ist Befehl.
Als sie zögernd stehenbleibt, will der Oberst wissen, ob sie noch Fragen habe. Ja. Wie soll sie auf den Berg kommen? Sie kann nicht fahren. Der Oberst ruft Leutnant Rosen herein. Rosens Blick streift sie, dann steht Rosen vor dem Oberst stramm. Dem verdankt sie also ihre Mission, ahnt Marlene. Als ob sie seine Bevorzugung wollen würde! Rosen erhält den Befehl, einen Fahrer und ein Fahrzeug bereitzustellen. Nach einigen Minuten erscheint er mit einem Jungen. Viel mehr als das ist der Kriegsgefangene nicht. Es ist der, der Marlene zugezwinkert hat, als sie vor Monaten in Telgruc ankam. Aus der Entfernung hat sie ihn seitdem hin und wieder gesehen.
Der Oberst hebt skeptisch die Augenbrauen. Aber Rosen sagt: »Das ist ein fixer Junge. Fährt jedes Fahrzeug, spricht Französisch und sogar etwas Deutsch. Stimmt’s, Erwin?«
»Jawohl«, sagt der Junge, der bestimmt nicht Erwin heißt, und seine Mundwinkel zucken. Macht er sich über Rosen lustig? Und das vor dem Oberst?
»Der Erwin ist zuverlässig«, betont Rosen, »der ist in seiner Gesinnung fast deutsch.«
»Breiz a tao?«, fragt der Oberst. Marlene hat von den bretonischen Nationalisten gehört, die für Hitler sind, weil sie glauben, der Führer überlasse ihnen nach dem Endsieg die Bretagne.
»Nein«, hebt Rosen an, aber …« Den Rest versteht Marlene nicht, weil Rosen sich zum Oberst beugt und flüstert.
Der Junge tut ganz unbeteiligt.
»Gut«, beschließt der Oberst.
Man hat ihnen einen Kübelwagen gegeben. Sie fahren langsam vom Hof, an einer Gruppe Soldaten vorbei. »He, Erwin«, ruft einer, »grüß deine Schwester von uns! Lad sie mal ein!« Die Soldaten lachen. Warum? Was ist mit seiner Schwester? Verstohlen sieht sie den Jungen an. Der beißt sich auf die Lippen.
Schweigend brausen sie die Landstraße entlang, als der Wind plötzlich da ist, urplötzlich. Kein Wind – ein Sturm! Wütende Böen rütteln am Wagen. Es ist, als hätte man das Licht ausgemacht. Sie hätten noch knappe zwei Stunden Tageslicht haben müssen, aber mit einem Mal ist es fast dunkel. Wie schnell die Wolken bleigrau geworden sind! Erste Tropfen fallen auf die Windschutzscheibe. Marlene fröstelt.
Der Junge lenkt den Kübelwagen konzentriert durch die Kurven. Der Weg steigt allmählich an. Dann erkennt Marlene die Kreuzung, an der sie links abbiegen müssen – die Straße zum Gipfel des Berges.
Sie haben mehr als die Hälfte des Weges geschafft, doch am liebsten würde Marlene umkehren. Das hier ist erst die Ruhe vor dem Sturm, ahnt sie, und jetzt schon fühlt sie sich in dem bebenden Wagen auf dem kahlen, einsamen Berg ungeschützt und verloren. Unsicher blickt sie zu dem Jungen hinüber, doch der sagt nichts. Er hat das Tempo gedrosselt, oder der Wagen kann nicht mehr schneller, denn der Sturm peitscht ihnen entgegen. Kiesel, Sand, die Zweige von Buschwerk schlagen prasselnd auf das Glas der Windschutzscheibe. Kann ein Kübelwagen von bloßem Wind fortgerissen werden, schießt es Marlene durch den Kopf?
Ein Blitz zuckt über den Himmel. Der Donnerschlag, der unmittelbar folgt, ist eine Explosion. Dann geht es los. Hagelkörner schlagen auf sie nieder, die Scheibenwischer stocken im Druck von zu viel Ansturm, die Atmosphäre ist fast schwarz um sie, mit orangefarbenen Schimmern, nur wenn die Blitze den Himmel überziehen, leuchtet fahl die karge Landschaft auf und das niedergedrückte Gras wird für Bruchteile von Sekunden grell sichtbar. Dann tut es einen Schlag, eine Bewegung vor ihnen, der Junge reißt den Lenker herum, der Wagen steht – was war das?! Der Junge öffnet die Tür des Fahrzeugs, der Wind reißt sie ihm aus der Hand, Hagelkörner springen in die Fahrerkabine, das Tosen ist noch lauter hörbar. Der Junge springt hinaus – Marlene folgt ihm. Der Sturm ergreift sie, sie fasst nach der Tür, die plötzlich auf sie zuschlägt, doch sie fühlt sich zur Seite gerissen. »Ça va?«, ruft der Junge. Dann zeigt er nach vorn: »Der Baum!«
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